laut.de-Kritik
Miss Molko, umringt von 16.000 Fans.
Review von Vicky ButscherHast du dich nicht auch schon mal gefragt, warum sich Leute zu Hause hinsetzen und ein Konzert auf dem Fernseher anschauen ... und das womöglich noch nüchtern!? Das geht doch eigentlich nur, wenn es sich dabei um die absolute Lieblingsband handelt oder wenn einen etwas mit dem Konzert verbindet.
So weiß ich zum Beispiel nicht, warum auf meinem Hole Unplugged-Video von 1995 überhaupt noch was zu sehen ist. Das andere Video, das über Wochen nicht mehr aus dem Player gefunden hat, war ein Mitschnitt von meinem ersten Placebo-Konzert. Overdrive hat damals den Gig im Kölner E-Werk aufgezeichnet. Ich war hin und weg und musste es jeden Abend zum Einschlafen sehen, damit ich ja von Brian träumte.
Inzwischen träume ich nicht mehr von Brian. Auch spielen Placebo nun größere Hallen. Wie das Bercy in Paris. Vor 16.000 Leuten standen die Jungs um den Winzling Molko. Das ist eine wahnsinnige Kulisse, die auf der DVD Gott sei Dank auch genau so rüber kommt. Aber dazu später. Vor allem hat sich seit diesem Overdrive-Mitschnitt vom Herbst 2000 noch was verändert: Es gibt keine Bühnendiva mehr, und wenn, dann nur noch in Ansätzen. Heute lässt Miss Molko ihren Mitstreitern viel Platz, sich selbst in Szene zu setzen.
Vor allem Stefan Osdal, der schwule Basser (ja, er schreibt es sich gelegentlich auf den Oberkörper, dass alle wissen, woran Mann bei ihm ist) nutzt das und schmeißt sich, teils bis an den Rand der Peinlich- und Klischeehaftigkeit in Rocker- und Schwulen-Pose. Schön, dass Brian ihm im Doku-Feature sagt: "Geh schon mal raus und mach deinen Schwulen-Tanz, um sie zu unterhalten." Stefan schnappt sich ein Bier und tanzt über die Bühne. Super, aber in einem kleinen Club und nicht im Pariser Bercy.
Ein perfekt eingespieltes Konzert vor einer aufgebrachten, begeisterten Menge ist zwar was Schönes, aber nichts richtig Spektakuläres. Wenn dazu die Möglichkeiten, die eine DVD bietet, kaum genutzt werden, ist das fast schon ärgerlich. Klar möchte man vor allem die Band sehen. Doch ab und zu erhaschte man vielleicht gern einen Blick auf die sehr gelungenen Hintergrundprojektionen, die perfekt auf jeden Song abgestimmt sind. Nun hat man hier jedoch nicht die Wahl, sich das Ganze mal aus einer anderen Perspektive anzuschauen, vielleicht etwas mehr von dieser grandiosen Arbeit im Hintergrund zu erleben. Auch Schlagzeuger Steve Hewitt kommt dabei schlecht weg.
Natürlich gibt es auch eindeutige Highlights auf der DVD, die wieder klar machen, wie viel livetauglicher die alten Alben waren. Bei "Black Eyed" schwappt zum ersten Mal die Stimmung von der Mattscheibe über, zum zweiten Mal schafft es "Taste In Men". Wunderbare Einstellungen liefern eine hinter dem Bassisten positionierte Kamera, die einem die Sicht von der Bühne in die Menge zeigt. Beeindruckend, wirklich. Auch wenn man später Brians Gesichtsausdruck sieht, wie es ihm gerade in diesem Moment bewusst wird, vor wie vielen Menschen sie da gerade stehen.
Der eindeutige Höhepunkt ist allerdings "Slave To The Wage", ohnehin eines der besten Placebo-Stücke. Die Menge tobt, der Sound haut rein, Stefan begibt sich während des Stücks in den Graben und löst eine kleine Hysterie aus. Das Stück, das Wut und Schönheit auf einem schmalen Grad verbindet, entfaltet seine volle Wirkung. Mädchen halten aus Fingern geformte Herzen in die Höhe, das gesamte Publikum wiederholt den Refrain immer und immer wieder. Den Pixies-Klassiker "Where Is My Mind" spielen Placebo in Paris mit einem anfangs lustlosen und dazu sehr, sehr dicken, dunkel sonnenbebrillten Frank Black. Im Laufe des Songs scheint ihm sein Duett immer mehr Spaß zu bereiten, auch Brian blüht noch einmal auf. Ein furioser letzter Song.
Das Schönste an der DVD ist allerdings die Tour-Doku. Sie gibt leider nur einen kurzen Einblick in das Leben hinter der Bühne. Man sieht, wie die Fans in Mexiko völlig am Rad drehen, Placebo zum Teil verfolgen. Mexico City wird dann auch Placebos größtes Konzert: Dort spielen sie vor 35.000 Zuschauern. Als Gegenpol sieht man noch die Vorbereitungen zum Gig im Indieclub Graceland/Seattle. Da passen gerade 600 Leute rein Und genau so viele werden auch kommen. Punkrock ist Brians Ansage. Ja, das ist noch wie in den "good old days". Zwischendurch kommen immer wieder Sequenzen, in denen sich Stefan verschiedene Erklärungen für sein zerkratztes Gesicht sucht. Schön! Genau so wie die Verarschung des "Blair Witch Project". Davon hätte ich gerne mehr als 23 Minuten gehabt!
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