laut.de-Kritik
Die Konzertmitschnitt gewordene Perfektion.
Review von Dennis RiegerDie Menge jubelt, das Intro zu "Even Less" wabert durch den Ziggo Dome, und dann geht es los: Nicht mit den Anfangsakkorden des "Stupid Dream"-Openers – jener Song wird erst später zu hören sein –, sondern mit dem nicht minder legendären Gitarrenriff aus "Blackest Eyes".
"A mother sings a lullaby to a child / Sometime in the future the boy goes wild / And all his nerves are feeling some kind of energy."
Oh ja, dieser Song gibt wohl jedem einen Energiekick! Ein idealer Opener für einen idealen Konzertabend.
Steven Wilson hatte Porcupine Tree nach der auf die "The Incident"-Tour folgenden Pause mehrfach für tot erklärt, ehe er im November 2021 erläuterte, er habe uns – in erster Linie genervt von im Zuge jeder neuen Soloalbumveröffentlichung aufkommenden Fragen zum guten alten Stachelschweinbaum – eine Notlüge aufgetischt. In Wirklichkeit sei er in den vorangegangenen Jahren mehrfach mit Richard Barbieri und Gavin Harrison zusammengekommen, um an neuen Songs zu arbeiten. Das sehr hörenswerte Studioergebnis erschien bekanntlich im Juni 2022, nun folgt der Livenachschlag in Form des am 7. November 2022 mitgeschnittenen Konzertes in Amsterdam.
Bei ihrem auf "Closure / Continuation. Live" verewigten Gig in der niederländischen Hauptstadt (wie auch bei allen weiteren 2022er-Konzerten) spielte die Band alle Songs ihres Comebackalbums und reicherte sie mit Highlights der Stachelschweinbaumdiskografie an. Mit weiteren Highlights sollte man vielleicht besser schreiben, denn auch "Closure/Continuation" lieferte mit Songs wie "Dignity" und "Rats Return" den Katalog jeder noch so guten Band aufwertendes Material. Was könnte da noch schiefgehen? Einiges. Denn in der Vergangenheit irritierte das ansonsten herausragende "Arriving Somewhere …" mit bestenfalls eigenwilligen Farbspielereien des Künstlers Lasse Hoile. Zudem handelte es sich sowohl bei "Arriving Somewhere …" als auch bei "Anesthetize" um Mitschnitt-Mixe jeweils zweier Konzerte, bei denen auch noch Perlen wie "Radioactive Toy" der Schere zum Opfer fielen. Diesmal halten sich Wilson und Co. zum Glück an ein altes Adenauer-Motto, experimentieren nicht, verzichten auf psychedelische Farbspielereien und veröffentlichen ein vollständiges Konzert.
Die "Closure/Continuation"-Songs überzeugen auch live voll und ganz. "Harridan" wird im Vergleich zur Studioversion leicht entschlackt, "Dignity" sorgt durch Wilsons Stimmeinsatz, Barbieris Soundscapes, ein Gitarrensolo des zweiten Saitenzauberers Randy McStine und die visuelle Untermalung, die obdachlose Menschen zeigt, nicht nur bei den Zuschauern in Amsterdam für kollektive Welpenblicke.
Wilson zeigt sich gesprächiger als je zuvor. Wer sich noch an den Sänger aus "Get All You Deserve"-Tagen erinnert, der auf Publikumszwischenrufe mitunter pikiert reagierte, kommt nicht umhin, sich über den längst aufgetauten Entertainer Wilson zu wundern respektive zu freuen. Einen recht missglückten "Without You!"-Publikumschor am Ende von "Harridan" kommentiert er – nach einem verschmitzten Lächeln – mit einem generösen "Beautiful!". Ganz am Ende des Gigs animiert Wilson via "What is it?"-Nachfrage das Publikum gar zu einem kollektiv gesungenen "It's okay!", um die "Trains" in den Bahnhof zu geleiten. Diesmal hat man wirklich das Gefühl, einem Livekonzert im heimischen Wohnzimmer beizuwohnen. Wenn Wilson ausnahmsweise einen Ton nicht trifft, wird nichts nachträglich kaschiert, zudem schwenkt die Kamera häufiger ins Publikum als auf den vorherigen Livemitschnitten. Einzig bei "Buying New Soul" vermutet der Autor aufgrund eigener Konzerterfahrung während der "Closure/Continuation"-Tour, dass Publikumszwischenrufe herausgefiltert wurden. Falls ja, ist das ausnahmsweise nur gut so. Denn wer die schönste aller Porcupine-Tree-Balladen stört, würde in einer gerechten Welt sowieso umgehend des Konzertsaales verwiesen.
"We don't have any hit singles", betont Wilson vor dem (perfekt gewählten) Rausschmeißer "Trains" mit falscher Bescheidenheit. Dabei beglückte er das Publikum zuvor nicht nur mit vertrackten Großtaten wie "Anesthetize" und Jahrhundert(halb)balladen wie "Buying New Soul", sondern auch mit Uptempo-Ohrwürmern wie "Drown With Me", "The Sound Of Muzak" oder "Halo". Auch wenn die Songs zu ihrer jeweiligen Erscheinungszeit ihren Weg nicht in die Charts gefunden haben, so können sie doch angesichts ihrer gegenwärtigen Streamingzahlen längst als (nachträgliche) Hits gelten, die jede Radiostation musikalisch und textlich aufwerten würden.
Die auf "Closure / Continuation. Live" präsentierten Songs weichen zumeist kein bisschen von den Studioversionen ab. Wieso auch perfektes Material verschlimmbessern? Neben dem bereits erwähnten "Harridan" und "Chimera's Wreck" handelt es sich bei dem im Vorfeld der Tour von den wenigsten Hörern erwarteten "I Drive The Hearse" um eine der wenigen die Regel bestätigenden Ausnahmen. Randy McStine schenkt der Halbballade ein zusätzliches, hörenswertes Gitarrensolo. Auch "Chimera's Wreck" gewinnt im Vergleich zur Studioversion nochmal an Qualität, zusätzliche Soundspielereien Barbieris erhöhen nicht nur den psychedelischen Faktor, sondern auch die Dringlichkeit des Songs.
Gibt es bei so viel Lob irgendetwas zu kritisieren? Kaum etwas. Der lebenden Drummaschine Gavin Harrison hätte man gerne ein bisschen mehr bei der harten ("Anesthetize"!) Arbeit zugesehen. Und auch wenn Nate Navarro von der ersten bis zur letzten Sekunde des Konzertes keinen Zweifel daran lässt, dass er sein Instrument beherrscht, kommt man nicht umhin, jemanden zu vermissen, der an seiner statt mit Mütze auf dem Haupt und Dauerlächeln im Gesicht von 1993 bis 2010 den Bass bediente. Man hofft immer noch auf eine zufriedenstellende Begründung, warum Colin Edwin das nicht mehr tun darf. Dass Steven Wilson auch mal auf eine Notlüge zurückgreift, gestand er ja inzwischen in einem anderen Kontext selbst ein.
Abgesehen von der ein bisschen arg hektischen Kamera, die Gavin Harrison allzu selten einfängt, handelt es sich bei "Closure / Continuation. Live" um die Konzertmitschnitt gewordene Perfektion. Dass Soundfetischisten auf ihre Kosten kommen, dürfte bei einer Veröffentlichung aus dem Wilson-Kosmos sowieso klar sein. Die BluRay wartet mit Dolby-Atmos-Surround-Sound, 5.1-Audio und 24-Bit-High-Resolution-Audio auf. Alles funktioniert, sowohl im heimischen Wohnzimmer als auch in Amsterdam. Nicht einmal eine Gitarrensaite reißt diesmal, wenn Wilson das Ende von "Trains" und somit des Konzertes einleitet.
Ein auf einer "Auf-Nummer-sicher"-Tour angefertigter "Auf-Nummer-sicher"-Livemitschnitt sonst wagemutiger Künstler? Sicherlich. Und gleichzeitig ein Livemitschnitt, der die Messlatte für andere Bands aus dem Prog-Rock-Bereich (und darüber hinaus) in schwindelerregende Höhe verlegt.
6 Kommentare mit 11 Antworten
Ich gebe zu, ich wollte hin. Und dann wieder nicht. Und dann wieder. Und dann wieder nicht. Und dann war ausverkauft. War okay für mich, bis ich den FOABP-Mitschnitt auf der Röhre gesehen hab. Jetzt ärgere ich mich. Mal sehen ob man noch eine dritte "once in a lifetime" - Chance bekommt.
Hatte Sauglück, daß ein alter Arbeitskollege bei nem Gig in der Crew aushalf, und ich so für umme dabei sein konnte. Einer der besten Gigs meines Lebens. Glücklicherweise war es ja keine Abschiedstour von PT, und so wirds garantiert wieder Gelegenheiten geben
Ich war bei der Show im Ziggo Dome dabei. Mal abgesehen vom anfangs etwas verhaltenen Publikum war es echt annähernd perfekt. Sollte das meine letzte PT-Show gewesen sein, hätte ich mir kaum eine bessere wünschen können. Und ein besserer Live-Album-Abschied als das etwas halbgare Octane Twisted ist es allemal.
Höre gerade zum ersten Mal durch und stelle fest: Das klingt schon irgendwie mehr live als andere PT-Livesachen. Da liegt Steven mal im Ton daneben, die Keys grätschen öfter mal irgendwo dazwischen, Gavin malträtiert teilweise die Toms als gäbe es kein Morgen ... ziemlich geil irgendwie.
Klar, ist das alles zum Klicktrack gespielt, damit es zu den Visuals passt. Aber in dem Rahmen scheint es hier doch mehr zur Sache zu gehen als in der Vergangenheit.
Das Konzert dieses Jahr ist locker mein Konzert des Jahres und das Beste, das ich je von der Band gesehen habe, auch wenn Colin natürlich vermisst wird am Bass.
Die Blu-Ray ist atemberaubend und auf einem Level mit dem "Anesthetize"-Konzert, meine Wertung: 10/5
An das Lichtdesign auf der Anesthetize kommt die neue m.E. nicht ran. Klar; andere Baustelle, aber zu gross, zu zerfasert, zu LED, da hat man im Club vor 14 Jahren mit deutlich weniger Möglichkeiten deutlich mehr gemacht (bis heute eines meiner Vorzeigebeispiele für Clublicht). Auch liegt mir bei der neuen die Setlist deutlich weniger, aber ich mochte auch schon das Album nicht wirklich. Ansonsten makellos, wie man's von Wilson kennt.
"An das Lichtdesign auf der Anesthetize kommt die neue m.E. nicht ran."
Habe die "Anesthetize" nochmal mit Augenmerk auf das Licht geschaut und muss dir zustimmen. Nachdem ich die nochmal erlebt habe, muss ich das auch etwas revidieren, so toll das neue Konzert auch ist, "Anesthetize" bleibt unerreicht.
Aber live im real life fand ich sie diesesmal irgendwie noch besser als vor ihrer Pause, was aber auch daran liegen könnte, dass ich über zehn Jahre darauf gewartet hatte und sie meine Erwartungen sogar übertroffen haben
Die neue hat halt bisschen das Problem, dass die unbedingt ihr aktuelles Album voll spielen mussten und selbiges halt nicht FOABP war. Anesthetize dagegen trotz weggelassenen Highlights (Stars Die!) die vielseitigere Auswahl.
Und eben, der Club, die Intimität, das Licht. Das Medley aus Strip The Soul und Dot Three ist so fett, gerade der Abschluss, da kommt auf der neuen einfach nichts (auch nur im Ansatz) ran.
Ich war dort und es war totlangweilig. Und ich hatte mich sehr darauf gefreut. Zunächst klingt die Musik komplex, aber wenn man genauer hinhört, merkt man, dass jedes Stück nur eine Improvisation über die ewig gleichen zwei bis drei Akkorde ist und eigentlich nicht viel passiert. Schade.
Obvious troll is obvious.
"Zunächst klingt die Musik komplex, aber wenn man genauer hinhört, merkt man, dass jedes Stück nur eine Improvisation über die ewig gleichen zwei bis drei Akkorde ist"
Und Du hast erst beim Konzert das erste Mal genauer hingehört?
Erstklassiger Fechter. Mercutio vs Tybalt ging zwar schlecht aus, aber die Cyborgversion Mercutio3000 hat ihm dann den Garaus gemacht
Bei mir war es "The Incident", als mir auffiel, dass die Musik nur noch ein anspruchsloses Geschrammel war. Singen kann er auch nicht wirklich.
Benenn dich bitte in 'Tragisch' um, was du hier verzapfst ist nämlich einfach nur zum Heulen
Ich hab mich seit ravens refuse to sing nicht mehr mit Wilson oder PT befasst und fand auch, dass besonders die Zeit unmittelbar nach PT seine kreativste und interessanteste war. (auch produzieren für opeth und erste soloplatten) Aber wenn ich die rezi lese, scheine ich ja fast nix verpasst zu haben hab leider kein einziges device mehr im haus, das einen datenträger abspielen könnte, sonst würde ich mir das sehr gerne geben...
Vielleicht kann man die Partituren irgendwo herunterladen...
Ich hab zwei Konzerte der Tour gesehen, war beide Male zeimlich geil. Freue mich darauf, die BluRay am Wochenende zu schauen. Einziges Manko: Kein Song aus der Frühphase.