laut.de-Kritik

Ein Abschied nach Maß.

Review von

"Aufhören, wenn's am schönsten ist / Die Uhren bleiben stehen", sang Till Lindemann schon im vorab veröffentlichten Titelsong. Wird "Zeit" Rammsteins letztes Album? Vieles deutet darauf hin.

Schon vor einigen Jahren dachten Bandmitglieder laut übers Ende nach. Sowohl Lindemann als auch Gitarrist Richard Z. Kruspe betreiben längst Soloprojekte. Die Musiker gehen auf die 60 zu, fragen sich vermutlich, wie lange sie noch eine Bühnenshow wie die ihre glaubwürdig abziehen können. Motive von Vergänglichkeit, dem Verlust der Jugend, Schwund und Trauer ziehen sich durch das neue Album. Am Schluss steht ein Abschiedssong, nach dem nur folgende Lesart bleibt: Entweder erlauben Rammstein sich bewusst einen großen Scherz – oder das wars tatsächlich. Die Ausrichtung des Albums und die eher düstere Grundstimmung passt zu letzterem. Es wimmelt vor Referenzen an die Vergangenheit, die Berliner versammeln (fast) alles, wofür sie stehen, versuchen aber gleichzeitig zu beweisen, dass sie noch Schritte nach vorne gehen können.

Mit "Armee Der Tristen" startet das Sextett recht typisch ins Album. Vor schwer pulsierender Synthesizer-Kulisse marschieren Rammstein in akkuratem Militärrhythmus, stoisch vorangetrieben von Drummer Christoph Schneider. Den fordernden Refrain teilt Lindemann mit einem Männerchor: "Komm mit / Reih' dich ein / Komm mit / Im Gleichschritt". Die Anspielungen bleiben gewohnt interpretationsoffen, sodass der Song als Trauerzug für die Fangemeinde durchgeht. Zugleich platziert die Band genug Hinweise, um zu erahnen, wem dieses Lied vielleicht darüber hinaus noch gewidmet sein könnte, will man eine zweite Ebene öffnen.

In Nuancen deuten Rammstein allerdings hier bereits an, welche Neuerungen "Zeit" für den Bandkosmos bedeutet. Die Gitarren unternehmen vereinzelt melodische Legato-Schlenker, die im üblichen Stakkato-Reigen auffallen. Dazu später noch mehr. Keyboarder Flake Lorenz überrascht mit dominanten Dance-Schlager-Klängen, die einen roten Faden fürs ganze Album vorgeben: "Zeit" ist die bisher digitalste Rammstein-Platte. Mehr denn je bauen Rammstein auf hintergründiges Sound-Design, Flakes Klänge scheinen nahezu alle software-generiert zu sein, ebenso wie einige Instrumente (z.B. das Klavier in "Adieu" und die Harfe in "Lügen") – in jedem Fall steckt eine Menge Arbeit in Postproduktion und Effektanwendung. "Zeit" will ein Blockbuster sein und klingt entsprechend. Da ergibt es durchaus Sinn, das Ding nicht nur in herkömmlichen Formaten, sondern zudem in Dolby Atmos abzumischen.

Besonders in "Lügen" tobte sich Produzent Olsen Involtini aus, inklusive Trap-Hi-Hat und Autotune. Letzteres wird zum wichtigsten Stilmittel des Songs, unterstreicht es doch Lindemanns Zeilen vom Schwindeln: "Ich belüge sogar mich / Keiner glaubt mir / Niemand traut mir / Nicht mal ich". Wie Involtini dazu die Tonkorrektur auf Lindemanns dröhnende Stimme anwendet, hat fast schon etwas Virtuoses. Manche werden es trotzdem fürchterlich finden. Das war wohl eingepreist.

Lindemann braucht Autotune zum Glück eigentlich noch nicht. Im Gegenteil: Er agiert variabler als zuletzt, wirkt gelöster, dynamischer. Seine Pathos-getränkten Melodiebögen ("Meine Tränen", "Zeit") entfalten enorme Strahlkraft, pointiert steigt er hinab in den Dreck. In "Angst" steht ein waschechter Growl. Die Instrumentalkollegen folgen ihm mit brutalem Doom-Riffing.

Bemerkenswert ist "Angst" aber auch wegen seiner Lyrics. Schon auf dem unbetitelten Vorgängerwerk klang das Thema Fremdenhass an, jetzt adressieren Rammstein es erstmals in einem eigenen Track unmissverständlich und anklagend: "Wenn wir Kinder unerzogen / Schon der Vater hat gedroht / Der Schwarze Mann, er wird dich holen / Wenn du nicht folgst meinem Gebot / Und das glauben wir bis heute / So in Angst sind Land und Leute / Etwas Schlimmes wird geschehen / Das Böse kommt, wird nicht mehr gehen [...] Alle haben Angst vorm Schwarzen Mann". Kollege Cordas meinte nach dem ersten Hören treffend: Das wirkt wie eine Fortsetzung von "Deutschland".

Ein kleines Lehrstück in Sachen rammsteinschem Storytelling gibts direkt davor in "Meine Tränen": "Ich leb' noch immer bei Mama / Jetzt schon alt, doch immer da / Auch wenn die Ärmel jetzt länger sind / Bin ich immer noch ihr kleines Kind / Wir sind allein, doch viel zu zweit / Und teilen gern ein halbes Leid / Das Haus ist klein, die Stille groß / Sie zwingt mich oft auf ihren Schoß". Binnen einer Strophe entsteht ein ganzes Leben, man hat die Szenerie vor Augen, zwei Figuren, deren Beziehung zueinander, einen Konflikt, der folgend weiter ausgeführt wird sowie eine grobe Idee davon, in welche Richtung es gehen soll.

Eingeklemmt ist das bedrückende Doppel "Meine Tränen"/"Angst" in die beiden leichtesten Nummern des Albums. Vorher trällert bei "OK" ein Kirchenchor die Hookline "Ohne Kondom", während der Refrain zum Hüpftanz motiviert. Nachher grölt Lindemann "Dicke Titten" und die Oktoberfest-Kapelle spielt dazu "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus". Doppelte Böden fehlen komplett, in beiden Songs gehts um genau das, was sie nahelegen: Fickificki und reiches Fettgewebe. Solange das stimmt, ist Tillmann "auch gar nicht wählerisch am Ende der Geschicht'" Na dann. Noch eine Helene-Fischer-Bridge dazu und fertig.

Feingeistiger wirds beim Titeltrack, wo erneut die ultracleane Produktion auffällt – und der Kontrast zwischen Sanftmut und Wucht. "Zeit" ist der vielleicht untypischste Rammstein-Song aller Zeiten, ohne den Wiedererkennungswert der Band über Bord zu werfen, und dabei meisterhaft arrangiert. Das Intro erinnert sehr an Steven Wilson, unter der Oberfläche wummert der Electro-Pop-Puls, später schrauben sich die Gitarren Post-Rock-artig in die Höhe, nachdem sie vorher schon zurückhaltende Harmonielinien formten. Verbunden mit Anleihen an frühere Stücke wie "Morgenstern", "Ohne Dich" und "Engel" ergeben die Elemente eine interessante Melange aus Alt und Neu.

Wer dagegen lieber ganz in der Vergangenheit schwelgt, hört "Giftig" und "Schwarz". Ersteres klingt wie das 2022-Sequel zu "Rein Raus" (inklusive einem Schuss Autotune, dafür an früher gemahnende, zackige Riffs). Letzteres zitiert direkt aus "Hilf Mir" von "Rosenrot": "Immer wenn ich einsam bin / Zieht es mich zum Dunkel hin". Mehr Referenzen gefällig? "Zick Zack" übernimmt das Gitarrenmotiv von "Los" ("Reise, Reise"). Nette Songs, alle drei, die ihren Zweck erfüllen, schon beim zweiten Durchlauf mitgesungen zu werden – mehr nicht.

Eines fehlt diesmal: Provokation. Klar, hie und da kokettieren einzelne Zeilen. Doch selbst empfindlichste Kritiker müssten schon sehr fantasievoll vorgehen, um auf "Zeit" Material für Empörung zu finden. Rammstein haben wohl erkannt, dass sie solches in ihrer jetzigen Stellung längst nicht mehr brauchen und die Finger trotzdem in offene Wunden legen können (siehe "Angst"). Es passt ins Bild eines würdevollen Abschieds nach knapp 30 Jahren. Rammstein haben sich verändert, weiterentwickelt und tragen doch noch dieselbe DNA in sich, die sie 1995 auf "Herzeleid" erstmals in Tonträgerform präsentierten.

So wie sie damals das erste Album mit direkter Publikumsansprache einleiteten, richten sie jetzt im letzten Song ihres vielleicht letzten Albums – "Adieu" – erneut das Wort direkt an die Hörer:innen: "Sogar die Sonne wird verglühen / Doch keine Angst, wir sind bei dir / Ein letztes Mal so singen wir / Adieu, goodbye, auf Wiedersehen / Den letzten Weg musst du alleine gehen / Ein letztes Lied, ein letzter Kuss / Kein Wunder wird geschehen / Adieu, goodbye, auf Wiedersehen / Die Zeit mit dir war schön". Machts gut, Rammstein. Bis zu den Stadionfeten im Sommer.

Trackliste

  1. 1. Armee Der Tristen
  2. 2. Zeit
  3. 3. Schwarz
  4. 4. Giftig
  5. 5. Zick Zack
  6. 6. OK
  7. 7. Meine Tränen
  8. 8. Angst
  9. 9. Dicke Titten
  10. 10. Lügen
  11. 11. Adieu

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