laut.de-Kritik
Klassik mal sexy und dirty.
Review von Philipp KauseDer erste Befund für Rayes Orchester-Album ergibt sich aus dem Temperament der Sängerin und der Royal Albert Hall als Location: R'n'B in einer perfekten Sound-Kulisse mit Klassik zu versetzen kann sich extrem spontan, frisch und dynamisch anhören. Eine Aufnahme wie "Oscar Winning Tears" hat dann absolut gar nichts mit John Legend und seinen umständlich auf den R'n'B montierten Geigen zu tun. "This LP is full of shit I'm gonna send to you (...) cause I'm inna flow" rühmt Raye, eine der Charts-Gewinnerinnen des Jahres, ihren eigenen Auftritt in breite-Hose-Gangsta-Rapper-Sprech, als sie merkt: Es flutscht, das Publikum beißt an.
Klassik lullt hier nicht ein, Rachel Agata Keen bricht die Steifheit der 'E'-Musik, des ernsten Lagers, stellt sie in ihren Kontext, sexy und dirty. So wie sie die vielen Instrumente braucht, um ihre (autobiographischen) Stories aus dem dreckigen Leben draußen zu erzählen und in diesen Saal der Eleganz hinein zu holen.
"Escapism", "Black Mascara", "Hard Out Here", "Flip A Switch", unser Redaktions-Liebling "Five Star Hotels", in einer smarten coolen Understatement-Fassung, für die Raye die Lacher des Publikums erntet und dann selber lachen muss - all diese Hit-Songs sind hier wieder zu hören, mit dem quicklebendig modulierenden Heritage Orchestra. "My 21st Century Symphony" nennt sich die Live-Edition von Rayes Premium-Debüt "My 21st Century Blues". Die Songs sind die gleichen, wobei man sie nur manchmal wiedererkennt. "Prada", ihre Sommer-Nummer Eins in Deutschland, fehlt, gehört nicht in diesen konzepthaften Lieder-Zyklus.
"The Thrill Is Gone", diese Nummer, fällt erst jetzt auf, in einer großen neuen Inszenierung mit spicy sporty Jazz-Lärm. Phasenweise meint man, Amy Winehouse hätte das nicht besser gekonnt, doch die schrie nicht so, wie Raye hier am Ende der Aufnahme. Die Süd-Londonerin dirigiert mit ihren Vocals, so wirkt es, wenn man nur zuhört und das Geschehen nicht sieht. Und die zahlreichen Instrumentalisten passen sich bereitwillig ihrem befreit klingenden Parforce-Ritt durch Temperaments-Schwankungen und Grundemotionen an.
Hier in "The Thrill Is Gone" inszenieren Sängerin und Orchester erst mit aller Wucht den 'Thrill'. Die Streicher-Crew hastet ins Fortissimo. Raye kreischt aus voller Kehle. Übergibt dann an die Brass Section. Schließlich gönnt sie sich einen Acapella-Exkurs. Das Ensemble verstummt.
Wo man schon mal in der Royal Albert Hall die Akustik ausprobieren darf, die bei so vielen Bluesrock- und Jazz-Acts funktioniert, kann man auch gleich ein fettes E-Gitarrensolo nach Art des Bonamassa einflechten und richtig altmodisch werden, Skat-Gesang antesten. In "Mary Jane" gelingt das alles vortrefflich. Wir erfahren von der Funktion von Rotwein im Leben einer "Sweet, sweet Mary Jane"-Konsumentin. Die Idee geht auf ihr Erlebnis als Teenager in einem Londoner Doppeldecker-Bus zurück, als sie nachts von Kiff-Wolken eingeräuchert wurde. Sie selbst hatte eher andere Probleme.
Ähnlich wie bei Alanis Morissette zu Beginn ihrer Karriere, schlitterte Raye in den Strudel einer Essstörung, als das Major-Musikbusiness sie zappeln ließ, ihr eine große Karriere versprach und immer wieder versicherte, sie sei noch nicht gut genug dafür. Studien über Magersucht zeigen, dass Anorexia nervosa überdurchschnittlich oft die Leistungsbereiten trifft, Schüler:innen mit sehr guten Noten und sportlicher Aktivität und objektiv keinem Anlass zu Minderwertigkeitskomplexen. Raye hat wohl so eine Hochleistungs-Persönlichkeit, bezeichnet sich in "Ice Cream Man" als "very f***ing brain-strong woman" und gibt bei dieser Show hier so inbrünstig alles, dass man die leidenschaftliche Perfektionistin zweifelsfrei spürt. Für ihre Gesundheit war ihr hoher Anspruch gefährlich.
Achtung, Triggerwarnung: Raye schildert mit einer piepsigen Kinderstimme, die im Violinen-Pomp dünn und klein wirkt, "I wanna be skinny". Dann schildert sie im Detail, wie sie im Badezimmer versucht, mit ihren Händen ihre Taille vollständig zu umgreifen und ihr knochiges Gesicht im Spiegel zu fett findet. Körperbildstörung nennt man das, "Body Dysmorphia".
Im Finale der Performance zieht sie ihr Kleid fürs Publikum aus, und bekundet, dass sie sich liebe, so wie sie jetzt sei. F***ing great moment! Auch andere Texte sind, wie schon in der Studiofassung festgestellt, reichlich explizit. Nachdem die 26-Jährige für die Sinfonie-Darbietung die Tracklist umstellte, bekommen die Herren aus dem Showbiz, von denen sie beim Date Raping mit Narkose-Tropfen k.o. gesetzt und angegrapscht wurde, gleich mal zu Anfang ihr Fett weg. "Name: not important", meint sie abgeklärt in "Oscar Winning Tears".
Es war ein schönes Resultat des Charts-Jahres 2023, dass ausgerechnet eine Frau, die selbst ihre Texte verfasst und in ihnen den Finger in Wunden legt, die Führung übernahm und mit "Escapism" gleich in den ersten Wochen des Jahres durch die Top 3 tingelte. Noch dazu mit 070 Shake im Duett, die ja nun nicht gerade konventionell und massentauglich ist, und mit dem Thema 'Aufarbeiten einer Vergewaltigung', fiesen Maschen, die nicht nur ein einzelner Mann anwendet, Körperverletzung, sexistischen Missständen in der Plattenindustrie. Und nicht nur dort, es trifft so viele: "Eine von vier Frauen, sagt die Statistik", so moderiert die Künstlerin "Ice Cream Man" an (und wie wir spätestens seit der katholischen Kirche und Asia Argentos Umgang mit einem minderjährigen Jungen wissen, es trifft auch das männliche Geschlecht).
Dass Raye als Vertreterin der 'leichten' Genres Pop/R'n'B akzeptiert wird, wenn sie überwiegend sehr ernste Tracks macht, lässt hoffen. Dass ein Indie-Artist, der sich mit dem weltgrößten Entertainment-Konzern angelegt hat, exakt im Moment der Trennung den größten kommerziellen Erfolg hat, ist göttlich: Als sie sich loseiste aus ihrem Vertrag mit Polydor und sich die weitere Karriere ganz alleine zutraute, ging alles scheinbar leicht wie von selbst.
Möglicherweise fehlt anderen Karrieren eben die Substanz. So wie "Black Mascara" hier als softer Tune mit weichem Streicher-Pizzicato startet, sich dann als Rap auf Orchester-Sound fortsetzt, in eine operettenhafte Aufführung switcht und zum großen Finale die Rock-Gitarre krachen lässt, so muss man halt auch was riskieren in Kunst und Unterhaltung. Raye hat das kompositorisch, gesanglich und lyrisch wiederholt getan, so wie nun hier im One Take-Mitschnitt vom 26. September 2023, und schon für diese Attitude, die Bereitschaft zum Wagnis, verehre ich sie.
Dass alle Songs außerdem spannend sind, dass die Umsetzungen sehr gut geraten, obwohl sich hier Jazz-Improvisation mit geplanten Pop-Strukturen in symphonischen Arrangements auf Offbeat- und Dance-Rhythmen vermischt, das hört man wirklich selten. Wer sowas Abgefahrenes wagt, darf sich dafür auch einen überlangen CD-Titel erlauben: "Raye With The Heritage Orchestra: My 21st Century Symphony - Live At The Royal Albert Hall" kann man jedem schenken, der auf mehr als eine Musikrichtung steht, sobald eine davon Klassik, Pop, Hip Hop, R'n'B, Jazz oder Blues heißt. Das Vinyl soll bis Weihnachten lieferbar sein, verrät Rayes Webshop, der preisgünstige Downloads in hoher Tonqualität offeriert. Wer nur streamen will, wird derweil auch bei Soundcloud fündig.
Sogenannte E- und U-Musik unter einen Hut zu bringen, glückt nur wenigen nachhaltig, denke man an Procol Harum, The Zombies, Lou Reed, John Cale, Kansas. Die meisten aber bewegen dabei nichts, klatschen auf ihre Songs einfach mehr Üppigkeit oder unterliegen der Starre des Partitur-Denkens im E-Musik-Bereich. Raye hingegen reißt die Grenzen komplett ein und denkt ihre Stücke groß. Obendrauf setzt sie dann noch den großen Luxus unserer Pop-Ära: Sie kann wirklich singen.
3 Kommentare mit einer Antwort
"Achtung, Triggerwarnung" ist ein genuin slappender Track.
Eben mal freie 20 Minuten gehabt und reingehört. Ist irgendwie ne Schande für die Insel, wie krass viele nervige Frauenstimmen da hochgespült werden. Seit rund 15 Jahren kommen lauter Püppchen mit astreinem Vocalcoaching ausm UK, denen jede Seele abhandenkommt. So bleibts bei Imitationen von den handelsüblichen Vocal Trills am Ende von Zeilen, dem Kratzigen, dem Hauchenden und allem anderen, was die Ikonen des Jazzgesangs vor 70 Jahren erfanden und prägten.
So gut ist das natürlich nicht ansatzweise, und es scheint im Grunde nur beklatscht zu werden, wenn die uralten Sounds zumindest erkennbar, die Pitches und die Technik genormt und auf Niveau sind. Das ist so aalglatt, es flutscht einem direkt in den Popo. Ob es nun Adele oder Raye ist.
Und immer hat man die Frage "warum brüllt mich diese hysterische Frau an?" im Hinterkopf.
Größenwahn pur. Raye scheint die neue Adele, Beyoncé oder Alicia Keys werden zu sollen. Mindestens. OMG!!!
(Dirty ist hier nichts.)