laut.de-Kritik
Extended Bedroom-Disco? The time is now!
Review von Michael SchuhDas Cover sagt eigentlich schon alles: Statt wie zuletzt Bauarbeiter-Helm und fluoreszierende Weste trägt Roisin Murphy nun Netz-Negligee. "I feel my story is still untold / but I'll make my own happy ending", verkündet sie gleich zu Beginn des Albums, ein Zitat aus dem Song "Murphy's Law", der den Satz im zweiten Albumdrittel noch einmal aufnimmt. Dort findet sich auch das Motto der Platte: "Our love is stuck on replay."
Kann gut sein, dass nicht wenige Fans der früheren Moloko-Furie auf genau so ein Album wie "Roisin Machine" seit über zehn Jahren warten. Nach zwei sehr experimentellen Platten umarmt die Irin die Welt endlich wieder, als wäre diese ein endloser Boris Dlugosch-Remix von "Sing It Back". "Hairless Toys" (2015) und "Take Her Up To Monto" (2016) hatten ihre Momente, doch erst wenn man die 47-Jährige jetzt in "Simulation" lasziv stöhnen hört, als sei sie Donna Summers gelehrigste Schülerin, kommen wieder all die Dancefloor-Erinnerungen aus den 90ern zurück, zu denen sie den Soundtrack lieferte.
Nach dem Moloko-Abschiedswerk "Statues" versuchte sie sich auf "Overpowered" 2007 noch einmal zaghaft an tanzbarem Techhouse, konzentrierte sich aber bald darauf aufs Familienleben. "Roisin Machine" entstand gemeinsam mit dem alten Warp-Connaisseur und House-DJ Parrot, einer Sheffielder Dance-Legende, dessen Beats schon die kleine Roisin im Manchester der späten 80er Jahre begeisterte.
Ihr Verhältnis zu dem 57-jährigen DJ, mit dem sie seit Jahren unregelmäßig Songs auf 12"es für Labels wie Hot Creations, The Vinyl Factory und Permanent Vacation aufnimmt ("Simulation" erschien schon 2012), beschreibt Murphy in der ihr eigenen Nüchternheit: "Parrot versteht Dance Music und er versteht mich." Es ist herzerwärmend, sich anhand der vorliegenden zehn durch Mark und Bein gehenden Tracks klarzumachen, dass diese Platte von einer zweifachen Mutter sowie von einem Mann stammt, der seinen Fuß ungefähr 2001 zuletzt in einen Club gesetzt hat, als er sein Projekt The All Seeing I begrub.
Dies erklärt unter anderem auch, warum Roisin nicht klingt wie, sagen wir Dua Lipa, also angesagter Dance-Pop aus dem Jahr 2020. Trotzdem ist "Roisin Machine" genau der Abend auf der Tanzfläche, den man in 2020 so schmerzlich vermisst. Es geht um Liebe, Verlangen, Rhythmus und Groove, umgesetzt in einer Art Symbiose aus 90er House und der early Disco der 70er Jahre. Den Albumtitel könnte man so auch als Anlehnung an die Munich Machine lesen, die Beatfabrik des Giorgio Moroder, der damals mit Donna Summers "I Feel Love" den Ursprung für alles lieferte.
"A crown upon my head / ten lovers in my bed / but I want something more": Trocken und smooth artikuliert Murphy ihren Status Quo im dritten Song, der nach dem Zeitlupen-House "Simulation" und dem wabernden Showstopper "Kingdom Of Ends" schon die 20-Minuten-Grenze reißt. Entfernt erinnert ihre Retro-Disco an Madonnas "Confessions On A Dance Floor", wenngleich die Rollen mittlerweile neu verteilt sind. Während sich Madonna im Lockdown in eine Badewanne setzte, worshipte Roisin Murphy in denkwürdigen Schlafzimmer-Auftritten ihre Disco-Götter.
Wie im Halbschlaf haut sie denn auch einen 4/4-Balearen-Banger nach dem anderen raus: Der zurückgelehnte Grower "Murphy's Law", der streicherlastige Moloko-Dancetrack "Narcissus" oder das sehnsüchtige Album-Highlight "Incapable": Im Disco-Strobo entschlüsselt Roisin den DNA-Code der elektronischen Tanzmusik, und ganz beiläufig atmen wir den Duft der Großtaten von Sister Sledge, Chic oder Cerrone ein.
"Jealousy" dreht das Tempo dann noch einmal hoch und lässt das Album auf einem Peak enden. Ihre nach wie vor unverkennbare Stimme, im Alter leicht tiefer geworden, überstrahlt ein durchweg euphorisches Album, das man so sicher nicht mehr von ihr erwartet hätte. Roisin Murphy selbst sucht auch schon wieder nach neuen Zielen: "Der grobe Plan ist, in meinen 50ern mehr Richtung Film zu gehen. Und ich bin ja schon 47."
5 Kommentare mit 2 Antworten
Das klingt vielversprechend. Dua Lipas Album klingt ja mittlerweile schon ziemlich verbraucht und durchschnittlich.
Ist auf jeden Fall sehr viel gekonnter als Dua Lipa, und nicht nach dem ersten Horcher schon langweilig. Disco braucht eben auch immer etwas Sensibilität. Ist scheiße, wenn jede einzelne Spur einem ins Gesicht springen soll.
So ein krass geniales Album, da verblassen die ganzen Gagas und wie sie alle heißen, aber dermaßen! Besser, intelligenter, anspruchvoller kann man Pop Musik heutzutage kaum machen.
Definitiv. Da haben die beiden mal schön 10 Lektionen mit der Gerte erteilt, wie man Tanzpop macht.
Ich mag ihre sperrigeren Sachen eigentlich lieber. Aber wenn man jemandem gönnt, auf den Disco-Zug aufzuspringen, dann ihr. Beste Frau.
"Ein wirklich tolles Album, aber der Sound klingt sehr anstrengend und gepresst", dachte ich, als ich die Tracks auf Youtube vorhörte. Zu jenem Zeitpunkt nahm ich an, dass die Soundqualität auf Youtube eben sowieso mit Absicht schlechter ist und die Künsterlin ja möchte, dass man das Originalalbum kauft... Aber leider Enttäuschung: Die Peaks der CD sind total übersteuert (DR4) Dass eine Künstlerin, die nicht vom Mainstream abhängig ist im Jahr 2020 glaubt am Loudness War teilnehmen zu müssen... Nicht nachvollziehbar.
..Intelligenter und anspruchsvoller kann man Popmusik zusätzlich machen, indem man zur 0db Decke noch etwas Luft lässt.