laut.de-Kritik
Die Gralshüter des Rock'n'Roll halten die Nostalgie-Fahne hoch.
Review von Michael SchuhVon drinnen schallt das Kreischen der Cranberries-Frontfrau Dolores O'Riordan unüberhörbar bis kurz vor die Eingangstore der Olympiahalle. Doch trotz der stimmlichen Penetranz hat hier so mancher kein Ohr für die Irin. In etwa 30 Minuten betreten die Rolling Stones die Bühne, um den Auftakt ihrer Europa-Tournee in München zu zelebrieren. Was eigentlich nach einem sicheren Geschäft für den Schwarzmarkt aussah, wird vielen Profit-Geiern nun zum bitteren Verhängnis.
Auf bis zu 25 Euro für ein Innenraum-Ticket sinken die offiziell fast dreimal so teuren Preise, und sorgen somit dafür, dass sich pünktlich zum Einmarsch Mick Jaggers um halb zehn auch die letzten lichten Reihen der Tribüne dem Ereignis entsprechend füllen. "Gruß Gott, Munchen" lautet die erste von zahlreichen deutschen Ansagen des Altstars. In den folgenden 120 Minuten halten die Gralshüter des Rock'n'Roll für die 12.000 Fans vor allem die Nostalgie-Fahne hoch. "Don't Stop" vom "Licks"-Best Of-Album bildet die Ausnahme, ansonsten arbeiten sich Keith Richards und Co. an den 70er Jahren ab.
"It's Only Rock'n'Roll (But I Like It)" aus dem Jahr 1974 gerät zum frühen Mitgröler, die fette Performance von "If You Can't Rock Me" vom selben Album zur ersten Überraschung. Mittelpunkt und unangefochtener Chef on stage: Mick Jagger. Im schwarz-grünen Zungen-Shirt hastet der sehnige Großvater derart energiegeladen die Weiten der Bühne auf und ab, dass man sich fragt, ob ein Stones-Konzert vor dreißig Jahren wohl groß anders ausgesehen hätte. Neben ihm zelebriert Riff-Vater Richards in üblicher Manier den Ausfallschritt, um seine Klampfe wie ein Minensuchgerät über dem Hallenboden kreisen zu lassen. Dass dabei trotzdem grollende Akkorde aus den Boxen krachen, beweisen einmal mehr "Start Me Up" und "Honky Tonk Woman".
Die Nostalgie macht auch vor der Wahl der Textilien nicht Halt: Ungeniert huldigt das begnadete Songwriter-Team mit türkisen Hemden, sonnengelben Muscle-Shirts und rosafarbenen Sackos den Mode-Entgleisungen der 80er Jahre. Dagegen könnte Gitarrist Ron Wood mit schwarzer Lederjacke, Blue Jeans und zotteliger Friese glatt auch von einer Strokes-Fotosession kommen. Besonders schön manifestiert sich die schier unüberschaubare Masse aller verfügbaren Stones-Songs an Drummer Charlie Watts. Der weiße Greis sitzt eingezwängt zwischen zwei Plexiglas-Scheiben, auf denen die Setlist des Abends verzeichnet ist.
Die beinhaltet als glänzende Highlights eine zehnminütige Jam-Version von "Midnight Rambler" und ein nicht weniger inspiriertes "Can't You Hear Me Knocking" vom "Sticky Fingers"-Album. Natürlich darf auch Richards wieder seine zwei Songs trällern, wenngleich der Applaus weitaus stärker ist, als Jagger den Namen seines Kumpels bei der Vorstellungsrunde ausruft. Es bleibt einer der wenigen Bühnen-Kontakte der beiden, die sich zwischen den Stücken jeweils lieber mit Ron Wood abklatschen. Im Gegensatz zu Fitness-Papst Jagger muss sich Richards im Hitzekessel Olympiahalle gleich zweimal vor einen Ventilator knien, um sein Set nicht vorzeitig zu beenden. Wie er wohl am Sonntag im Kühlluft-resistenten Circus Krone zu überleben gedenkt?
Die Betagteren unter den Stones-Fans freuen sich im weiteren Verlauf vor allem über die Hereinnahme einiger Songs vom "Let It Bleed"-Album, die jüngeren Jahrgänge kommen spätestens beim abschließenden Konsens-Song "Satsfaction" im Konfetti-Regen auf ihre Kosten. Die wahre 'Befriedigung' für Besitzer von Innenraum-Karten ist jedoch der erste Zugabeblock. Die Stones entern die Mini-Bühne in der Hallenmitte und verwandeln sich von der Arena-Band mit Großleinwand in eine Club-Combo mit Mini-Verstärker. Passend dazu gibt's den Muddy Waters-Klassiker "Hoochie Coochie Man" und den Rock-Hammer "Brown Sugar". Das Fazit kann also nur lauten: die Legende lebt. Und Keith Richards' vor Jahren geäußertes Zitat hat nach wie vor Bestand: "Erst wenn wir einmal abtreten, wird die Welt sehen, was alles möglich ist."