laut.de-Kritik

Lemmy at his best.

Review von

Sam Gopal ist eine der undenkbarsten Bands der Musikgeschichte. Der gleichnamige Malaie, mittlerweile seit vielen Jahren in München wohnhaft, zog Anfang der 60er aus seinem Heimatland hierher, um zu studieren. Der Gute spielt Tabla, ein nordindisches Perkussionsinstrument, und schafft es irgendwie, in den drei (Haupt-)Versionen seiner Combo jeweils Pete Sears, Mickey Finn und einen gewissen Ian Willis anzulocken. Man merkt schon: Einige seiner Zeitgenossen schätzten Gopals Kreativität als enorm ein, und Recht sollten sie behalten.

"Escalator" ist das Debütalbum für Gopal. Dessen Band hieß zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Sam Gopal und bezog ebenjenen Willis mit ein, der damals überlegte, seinen Nachnamen Kilmister an den seines Stiefvaters anzugleichen. Es war nicht Lemmys erste Band, wir sprechen hier von der Phase zwischen The Rockin' Vickers und Hawkwind. Für "Escalator" spielte er mit gleich fünf Hauptcredits eine entscheidende Rolle und, wie nicht wenige behaupten, eine der besten seiner Karriere. Im Übrigen waren diese Bescheidwisser mal deutlich weniger. Einfach, weil keine Sau "Escalator" mehr kannte. Ganz von der Bildfläche verschwand es dank Lemmys Beteiligung und trotz jahrzehntelangem Non-Outputs von Gopal selbst zwar nie, vor etwa zehn Jahren begannen Szeneprinzen/Musikredakteure aber damit, das Werk auf Bestenlisten zu präsentieren. Dem neu geweckten Interesse ist das Re-Release 2016 geschuldet, das die Bonustracks "Horse" und das Willie Dixon-Cover "Back Door Man" umfasst.

Warum "Escalator" so beliebt wurde, ist schnell erzählt: Es ist ein geniales Album. Nicht nur herrscht auf der Scheibe eine ziemlich einzigartige Atmosphäre dank Lemmys Gesang, der sich in jede Zeile mit seinem beschränkten Organ hineinwirft, als gäbe es kein Morgen mehr. Auch die Mischung aus Psych-Rock, klassischem Rock und Blues wurde in dieser Kombination nur selten angerührt. Verbunden mit Gopals Tablas, die passen wie die Faust aufs Auge und ein proggiges Element einfügen, und einem absurd hohen Niveau im Songwriting ergibt sich ein Klassiker, der in jede Sammlung gehört.

Lemmy spielt hier Rhythmusgitarre, den Bass bedient der Sessionmusiker Phil Duke, und hier zeigt sich der Vorteil der Tablas: "Escalator" hört sich quasi durchgehend frei fließend an. Diesen Platz nutzt Duke in einer bemerkenswerten Art und Weise aus. Der Bass dient keiner Untermalung oder einem Beat, sondern ist völlig gleichberechtigtes Melodieinstrument, was Duke mit einer Nonchalance und einem Können angeht, das ihn zum heimlichen Star des Albums macht. Beispielhaft sei auf "The Dark Lord" verwiesen, wo Leadgitarrist Roger D'Elia, anschließend ebenfalls ohne eigene nennenswerte Karriere, und Duke in einem hyperkomplexen Monstrum Eingängigkeit schaffen, als sei es das Einfachste der Welt.

Dieser freie Fluß konterkariert ausgezeichnet die Lyrics, die von unbefriedigter Sehnsucht nur so tropfen. Der junge Lemmy hat Zukunftsangst ("Why is tomorrow waiting? Daylight seems so far away", "Cold Embrace"), schaut der Hölle zu, wie sie den Teufel während der Apokalypse vermisst ("Light fading, times wasting. Hell's waiting for the Dark Lord", "The Dark Lord"), erkennt wie jeder Liebende die Liebe zu spät ("Then I learned there was more to life than this, I learned it with your kiss and youth began to die", "The Sky Is Burning"), trauert bitterlich und atemberaubend gemein einer Verflossenen hinterher ("You're the only one to hope you just can't lie, and now you can begin to learn to cry", "You're Alone Now", sowie "Make up your own mind, give me a reason why you are running, small and alone", "Grass" und auf "Yesterlove"), die Furcht vor den eigenen Dämonen ("I've been looking in the mirror, baby, and now I'm living in the black", "Escalator") und immer wieder Einsamkeit ("Angry Faces" und "Season Of The Witch"). Dabei geht es nicht nur um den Kontrast. Alle, die diese Beispiele nicht überzeugten, wie absolut sicher der Effekt eintritt, dass man nach dem zweiten Hören die Lyrics mitsingt, sein auf diese wunderschönen Zeilen verwiesen:

"I'll take you walking on the sand
To watch the sleeping sea
And walking in the wood
To touch the singing trees
"

"It's Only Love"

Nachdem wir bislang nur "The Dark Lord" besprochen haben, widmen wir uns dem Opener "Cold Embrace", der sofort von Null auf 100 schaltet und bei dem ich jedes einzelne verdammte Mal seit gut 15 Jahren lächeln muss, wenn ich Lemmys Stimme einsetzen höre, so sehr passt hier einfach alles. Einer der energetischsten Songs überhaupt, alles drängt nach vorne und sprüht vor Spiellust und einer Ernsthaftigkeit, wie sie wohl nur wirklich junge Leute an den Tag legen können. "The Dark Lord" fällt nicht ab, aber irrerweise wird die Scheibe jetzt erst so richtig gut.

"The Sky Is Burning" strotzt vor Charakter und Wiedererkennungswert, dass es eine Freude ist. Aus dem exzessiven Drogenkonsum während der Aufnahmen machte keiner der Beteiligten jemals ein Geheimnis, und auch wenn Drogen natürlich nichts für euch sind, eine dermaßen perfekte LSD-Hymne wie diesen Song wird es wohl kein zweites Mal geben. Lemmy säuselt hier über Gopals Tablas und beschreibt erst den farbigen Himmel (*hust), bevor er so tiefgründig und gleichzeitig mit sich selbst im Reinen nostalgisch wird, dass es jeden packen muss, der noch ein Herz besitzt. "Will you think of me at all?", haucht er, scheinbar losgelöst von solchen Problemchen, nur um auf "You're Alone Now" mit einer Kälte und Bitterkeit vorzutragen, dass die Gänsehaut bis ins Trommelfell reicht. Duke und Gopal verschmelzen auf diesem Track und bereiten Lemmy damit genau die Grundlage, die er für seine Anklage braucht, bis hin zum perfekten Basssolo zum Schluss.

Songs vom Kaliber eines "Grass" schrieben die Stones vielleicht zwei oder drei Mal in ihrer gesamten Karriere. Mehr 60s-Rock geht kaum als in dieser vierminütigen, reduzierten Beschwörung, in der Lemmy an der Gitarre seine Dynamik voll zeigt und den Song fast allein trägt. "It's Only Love" setzt den Reigen perfekter Songs fort, ein ständiges Auf und Ab mit markantem Bass, bis es Lemmy reicht und er die Liebe zu Grabe trägt mit entschlossenem Schrei. Schon setzt der Titeltrack ein, der einzige, in dem die Gitarren miteinander wetteifern und beide voll elektrisch umeinander tanzen, bis sie den Platz frei machen für einen der besten Songs des Albums: "Angry Faces".

Man kann nicht genug betonen, wie solitär diese besten Songs dieses Albums stehen, wie wenig sie sich trotz ihrer spartanischen Produktion mit irgendetwas anderes vergleichen lassen. Die Energie, die Lemmy in "Angry Faces" legt, und die perfekte Bridge danach, wie er immer wieder aufgibt, um neu anzugreifen und anzuklagen gegen die "Angry Faces", sind eine Klasse für sich.

Mit "Midsummer Nights Dream" wartet der vielleicht konventionellste Song des Werks, "lediglich" zwei Minuten hervorragender, treibender 60s-Rock. Es folgt mit "Season Of The Witch" ein Lied, bei dem ich nicht fassen kann, wie das kein Überhit werden konnte, während im selben Jahr Heintje seinen Durchbruch feierte. Einer der besten Rocksongs der Geschichte, gefolgt von einem der schönsten und traurigsten Stücke über das Verlassenwerden, "Yesterlove", das Albumhighlight unter den ganzen Highlights. Wenn Lemmy "from the bottom of my broken heart" seiner Geliebten für die Erfahrung dankt, bleibt kein Auge trocken.

Damit war "Escalator" eigentlich beendet, die letzten beiden Songs wurden unter hanebüchenen Umständen gerettet und als Bonus der 2016er-Version hinzugefügt. "Horse" hat einen kantigen Charakter. Gäbe es Indian/First Nations Rock als eigenes Genre, so sollte es klingen. Das Dixon-Cover ist eine hochwertige Dreingabe, bei der die Musiker Spaß hatten, das war es aber auch.

Über den Produzenten der Scheibe, Trevor Walters, ist quasi nichts bekannt, trotz seines Wahnsinnsjobs. Vermutlich handelte er auf Bitten von Robert Stigwood, der die zweite Inkarnation von Sam Gopal (und Cream) managte. Er ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Reggae-Musiker.

Zum Schluss dieser Review sei auf "Father Mucker", das einzige andere Album von Sam Gopal verwiesen, das dieser selbst als spirituelle, völlig verkopfte Zwölftonmusik komponiert hat und einem von München aus gegen Vorkasse auf CD schickt. Allein schon seine netten Grüße und der Respekt vor "Escalator" sind es wert, das zu ordern.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Cold Embrace
  2. 2. The Dark Lord
  3. 3. The Sky Is Burning
  4. 4. You're Alone Now
  5. 5. Grass
  6. 6. It's Only Love
  7. 7. Escalator
  8. 8. Angry Faces
  9. 9. Midsummer Nights Dream
  10. 10. Season Of The Witch
  11. 11. Yesterlove
  12. 12. Horse
  13. 13. Back Door Man

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