laut.de-Kritik
Fuck You! Attitüde ist wichtiger als Technik.
Review von Giuliano BenassiIn die Eier: Alles an diesem Album ist ausgelegt, um die Weichteile des Establishments zu treffen. Der Titel? Enthält eines jener bösen Worte, das man in der Öffentlichkeit nicht verwenden sollte. Das Cover? Aus Zeitungsbuchstaben zusammengeschnippelt, angelehnt an terroristische Pamphlete und Underground-Fanzines. Die Musik? Roh, simpel, einprägsam, billig produziert. Die Texte? Ein Frontalangriff auf alles und alle: Die Politik, die Gesellschaftsordnung, die Wirtschaft und nicht zuletzt die großen Labels.
"Never Mind The Bollocks" ist nicht das erste Punk-Album, wohl aber das einflussreichste. 1975 schwappt die Bewegung von New York nach London über, wo sie neue, extremere Züge annimmt. Aus Spaß wird Ernst: Geht es bei den großen musikalischen Vorbildern, den Ramones, noch um harmlosen Pogo, fliegen in England Flaschen, Kotze und literweise Spucke.
Beliebteste Freizeitbeschäftigung: Kleber schnüffeln und Schlägereien. In einer Stadt, die durch zahlreiche Anschläge der IRA eh schon unter Dauerstrom steht, tauchen plötzlich schrill bekleidete, geschminkte und frisierte Menschen auf, die sich mit Symbolen extremer politischer und terroristischer Bewegungen schmücken. Ihr Motto: Mir ist alles scheißegal. Fuck you.
Mitten drin, als musikalische Galionsfigur: Die Sex Pistols. "Als ich sie sah, wurde mir klar, dass man die Pistols mit keiner anderen Band der Insel vergleichen konnte, so weit voraus waren sie. Ich kann das nicht genug betonen. Es waren kaum Zuhörer da. Fünf Sekunden, nachdem sie ihren ersten Song angespielt hatten, wusste ich aber, dass wir am Ende waren," erinnert sich Joe Strummer, der Mitte 1976 in einer Band Namens 101ers spielt und nach dieser Erkenntnis The Clash gründet.
Attitüde ist wichtiger ist als Technik – keine andere Band hat das besser bewiesen. Allen voran Frontmann John Lydon, der zu diesem Zeitpunkt Johnny Rotten heißt. "Er konnte überhaupt nicht singen. Was er dadurch betonte, dass er sich keinerlei Mühe gab. Aber er war ein brillanter Frontmann und ein brillanter Texter. Wahrscheinlich der beste in der Geschichte der weißen Rockmusik", gibt eine weitere zentrale Figur der Londoner Punk-Bewegung zu Protokoll – jener Shane O'Hooligan, der wenige Jahre später mit seinem bürgerlichen Namen Shane MacGowan und den Pogues selbst Musikgeschichte schreiben sollte.
Zwischen den ersten Auftritten und der Veröffentlichung von "Never Mind The Bollocks" im Oktober 1977 liegen allerdings Welten. Vom Underground hat sich der Punk in ein Medien- und Modephänomen umgewandelt. Neue Labels sind wie Pilze aus dem Boden geschossen und haben alles unter Vertrag genommen, was auch nur annähernd ein Instrument in der Hand halten kann. Die Sex Pistols stehen kurz vor dem Ende und haben Millionen verdient.
Zunächst nimmt EMI sie unter Vertrag und veröffentlicht ihre erste offizielle Single. Als "Anarchy In The UK" im November 1976 erscheint, bricht die Hölle aus. "I am an antichrist, I am an anarchist. Don't know what I want, but I know how to get it", lauteten die ersten, von Lydon geschrienen Zeilen.
Presse und Politik sind entsetzt. Als die Pistols im Dezember bei einer TV-Sendung kurzfristig Queen ersetzen, beleidigt Gitarrist Steve Jones Anchorman Bill Grundy ("You dirty fucker"), womit er ein Tabu bricht. EMI, das eine Million Pfund im Voraus bezahlt hat, löst den Vertrag auf. Die Band, die Blut geleckt hat, legt richtig los und beginnt einen PR-Feldzug, der seinesgleichen sucht. Geschickt geleitet von zwei schillernden Geschäftsmännern.
Der erste ist Malcolm McLaren. Mit seiner Partnerin, der Modedesignerin Vivienne Westwood, betreibt er den Klamottenladen "SEX", der so etwas wie die zentrale Anlaufstelle der modebewussten Punks ist. 1975 hatte er die New York Dolls eingekleidet. Als ihm im selben Jahr Lydon zufällig über den Weg läuft, verpflichtet er ihn sofort für eine der Bands, die er gerade managt – die Sex Pistols.
Sie als lebende Litfaßsäule für seine Produkte zu bezeichnen, wie mancher Kritiker es später tut, wäre vermessen. Jedoch gelingt es ihm, die angeheizte öffentliche Stimmung zu nutzen. Nachdem auch ein zweites Label, A&R, nach wenigen Wochen den Vertrag auflöst, tut er sich mit einem ehemaligen Bootleg-Verkäufer der Portobello Road zusammen, der eine Plattenladen-Kette samt Label betreibt. Das Label: Virgin. Der Geschäftsmann: Richard Branson.
Diese beiden richtungsweisenden Größen im Business landen nun ihren größten Coup: Während der Feiern zum 25. Thronjubiläum der Queen im Mai 1977 mieten sie auf der Themse in Boot an, um vor dem Parlament ein Konzert zu geben. So weit kommt es nicht, denn die Polizei stürmt das Boot vor der Performance, aber der Publicity-Stunt ist geglückt. Zumal die zeitgleich veröffentlichte Single "God Save The Queen" erneut einen Affront darstellt. "Gott schütze die Königin. Und ihr faschistisches Regime. Sie haben einen Idioten aus dir gemacht. Und eine mögliche Atomwaffe" bläfft Rotten anstelle der Nationalhymne, dessen Titel der Song trägt.
Das Album hat die Band zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend aufgenommen. Die Texte stammen von Rotten, die Riffs vom einzigen ernsthaften Musiker, dem Gitarristen Steve Jones, das Schlagzeug von Paul Cook. Wer die Bass-Parts einspielt, ist dagegen umstritten. Sicherlich nicht der offizielle Bassist Sid Vicious, der das Instrument nicht beherrscht. Zum Teil wahrscheinlich der im Januar gefeuerte Glen Matlock, der anschließend als Session-Musiker verpflichtet wird, zum Teil Gitarrist Jones.
Das Ergebnis jedoch ist sensationell. Primitiv in jeder Hinsicht, begeisternd, aufwühlend "Ich will keinen Urlaub in der Sonne, sondern ins neue Bergen Belsen", stellt Rotten im Opener "Holidays" in den ersten zwei Zeilen klar. So geht es munter weiter, über "Anarchy" und "God Save The Queen" bis zum Abschluss "EMI", in dem Rotten mit den Labels abrechnet, die sie, oder zumindest McLaren und Branson, reich gemacht haben. Das Album endet mit einem Furz.
Vier Akkorde und zwölf Stücke für die Ewigkeit. Mit der Band ist es dagegen schlecht bestellt. Da in der Heimat mehr oder weniger Auftrittsverbot besteht, geht sie in die USA. Im Januar 1978 treten sie in Los Angeles auf, wo Rotten nach nur einem Song, "No Fun" von den Stooges, die Bühne und die Pistols verlässt. Das letzte Lebenszeichen stammt im Juni vom nun schwer heroinsüchtigen Vicious, der auf einer Single Frank Sinatras "My Way" zum besten gibt.
Im Januar 1979 wird Vicious tot im Chelsea Hotel in New York aufgefunden. Malcolm McLaren bleibt ein bunter Hund, der weiterhin als Manager auftritt, nebenbei auch Musik und Filme macht. Jones nimmt ohne großen kommerziellen Erfolg an einer Vielzahl an Projekten teil, Branson erschafft ein Firmenimperium unter dem Namen Virgin. 1992 verkauft er das Label für 500 Millionen Pfund - ausgerechnet an EMI.
Rotten nimmt wieder seinen Geburtsnamen Lydon an, gründet Public Image Ltd. und veröffentlicht 1978 und 1979 zwei weitere Meilenstein-Kandidaten: "First Issue" und "Metal Box".
Was in den Jahrzehnten danach folgt, Reunion-Touren und billige Skandale, ist nur Abklatsch und Abzocke. Gültig bleibt einzig und allein ihr Album, dessen passender Titel grob übersetzt lautet: "Alles andere ist scheiße – hier sind die Sex Pistols".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
23 Kommentare
Punk! Endlich! Danke laut.de!
@PunkrockOnkel (« Punk! Endlich! Danke laut.de! »):
Hatten wir nicht schon letztens die Ramones?
Auch wenn die Sex Pistols auf jeden Fall eine große Punkband sind, wäre es unangemessen, ihr Album als das einflussreichste Punkalbum zu nennen oder überhaupt in die Meilenstein-Gruppe hinein zu bringen. Ich bin der Meinung, dass es wichtiger wäre London Calling oder "The Clash" von The Clash zu würdigen. Die Texte sind ehrlicher und die Musik besser. Darüberhinaus stellt sich mir die Frage, ob ihr Postpunk vergesst. Magazines "Real Life" oder Wires Pink Flag, sowie Sachen von Pil, Joy Division oder Gang of Four, sind allemal besser als dieses Album ,dass von einer Band aufgenommen wurde, die weniger eine Band als ein Vehikel für Malcolm Maclarens Strategie der Provokation zwecks Konsum war.
komm jetzt mal ein beastie boys album, figure 8 oder xo von elliott smith würde mir auch gefallen
Ich habe mir jetzt mal die Zeit genommen und die Review gelesen. Ist insgesamt sehr gut geworden.
Morgen aber endlich mal Daydream Nation ! Und nicht wieder i-welche Kack-Alben ala Lemonheads oder Funkadelic um mich ungeduldig zu machen.