laut.de-Kritik
Gruft'n'Roll wie in alten Zeiten.
Review von Michael SchuhVerkehrte Welt. Vor dem Colosseum lungern zahlreiche zu spät Gekommene mit "Suche Karten"-Pappschildern herum und drinnen spielen Paradise Lost. Deren HIM-infizierter Pathosrock will nicht so recht zünden, auch wenn sich die ersten Reihen netterweise zu Sympathie-Applaus aufraffen. Doch die Vorfreude auf den Hauptact scheint alles andere zu überschatten: die Sisters werden zwanzig Bühnenjahre alt und Gitarrist Whammy, wie wir später erfahren, zumindest ein Jahr älter, weswegen er "heute spielen kann, was er will" (Eldritch).
Dementsprechend laut der Aufschrei aus gut 2500 Kehlen, als "First And Last And Always" mit der ganzen Wucht seines Klassikerdaseins aus den Boxen dröhnt. Ob die Helden des Abends tatsächlich schon auf der Bühne stehen oder noch in der Umkleide chillen, weiß niemand. Die Nebelmaschine avanciert zum Spielverderber und pumpt um ihr Leben. Als Kollege Mengele nach zehn Minuten ungläubig den Fotograben verlassen muss, dürfen wir erste Umrisse der Liveband erhaschen: Eldritch, Whammy und Starling teilen sich die Bühnenfront, Drum-Maschine Doctor Avalanche gibt ihnen Beat-Deckung.
Mit der farbenfrohen Bühnengarderobe distanzieren sie sich deutlich von der Fan-Basis, die zur Sicherheit (und zu unserem großen Vergnügen) mitunter die Original-Textilien der verflossenen Jugend ans dunkle Licht gezerrt hat. Nachdem "Detonation Boulevard" den Mosh-Faktor wieder in Gang bringt, ertönt plötzlich "Giving Ground", der alte Sisterhood-Burner. Yeah Baby. Bei "Dominion/Mother Russia" brennt die Hütte endgültig. Das geht soweit, dass die üblichen New Model Army-Esoteriker auf den Schultern ihrer Kollegen abstruse Luftmalereien vom Stapel lassen.
Fehlen darf an diesem Abend zwar "This Corrosion" aber nicht "Temple Of Love". Das eigentlich untypische Sisters-Stück trifft die Crowd bis ins Rückenmark. Der Kult um die Band, die seit elf Jahren kein Studioalbum mehr veröffentlicht hat, wird spätestens beim nun einsetzenden Karaoke-Contest erkennbar. Der Oldie-Kracher "Alice" ist ebenfalls eine sichere Bank. Die wahren Perlen des Abends kommen jedoch zuletzt: im Zugabenteil überraschen Andrew & Co. mit dem grandiosen Pink Floyd-Cover "Comfortably Numb", das zu allem Überfluss auch noch in "Some Kind Of A Stranger" übergeht. Und während ich demutsvoll zum Merchandise-Stand krieche, um mir mein erstes Sisters-Shirt zuzulegen, knallt mir der alte Andrew noch "Vision Thing" um die Ohren. Fazit des Abends? It's only Rock'n Roll but I like it.