laut.de-Kritik
Elektronische Rock-Geschichten aus dem kalten Krieg.
Review von Alexander CordasSo, Kinder, der Onkel erzählt euch jetzt mal was vom Krieg. Zumindest etwas von der kalten Sorte. Die Wurzeln der Combo, um die es diesmal geht, reichen bis tief in die Siebzigerjahre des letzten Jahrtausends zurück, als sich im ummauerten Berlin die Großmächte UdSSR und der Alliierten (Begriffe bitte googlen) gegenüberstehen. Zu der Zeit finden sich ein paar versprengte Jungs in der Band Lok Kreuzberg zusammen. Als da wären: Bassist Manfred Praeker, Gitarrist Bernhard Potschka und Schlagzeuger Herwig Mitteregger. Diese Formation mündet mit Reinhold Heil am Keyboard und Nina Hagen am Mikro in der Nina Hagen Band und steigt schnell in die Beletage des Deutschrocks der ausgehenden 70er empor, bis Hagen in einem Anfall von Egomanie den Vieren den Laufpass gibt.
Von diesem Knall erholt, entwerfen Spliff, wie sich die Band nun nennt (Slang-Ausdruck bitte googlen), ein bitterböses Musical, das 1980 in das Album "The Spliff Radio Show" fließt. Auf diesem nehmen sie das Musikbusiness aus allen möglichen satirischen Perspektiven unter Beschuss.
Eine Neuausrichtung erfolgt schon kurz danach. Die englischen Texte fliegen in die Tonne, einen Sänger benötigt das Quartett allein aus reinem Selbstschutz schon nicht mehr, die Mitglieder teilen die Parts am Mikro untereinander auf. Lediglich Gitarrist Potschka tritt nicht wirklich ins Rampenlicht, er kümmert sich eher um seine sechs Saiten.
So steht Anfang 1982 das "85555" betitelte zweite Album in den Läden, das der Band in Deutschland zum Durchbruch verhelfen soll. Den kryptischen Titel leiten Spliff von der damaligen Bestellnummer her, die auch heute noch Verwendung findet. Dass der Release der Scheibe punktgenau in den allgemeinen Hype um die Neue Deutsche Welle fällt, ist eher zufälliger Natur, denn außer der Sprache haben Spliff mit Acts wie Nena, Hubert Kah oder dem restlichen NDW-Gerümpel kaum bis gar nichts gemein. Sieht man einmal vom völligen Fremdkörper in der Tracklist ab. Dieser hört auf den Namen "Carbonara". Ausgerechnet diese Nummer avanciert zum Dauerbrenner und markiert auch heute noch den größten Widerhaken der Gruppe im öffentlichen Gedächtnis. Nonsens-Lyrics auf Italogermanisch und ein fluffiger Reggae befördern den Titel in die bundesdeutsche Musikhistorie.
Dabei waren Spliff musikalisch, lyrisch und von der Haltung her alles andere als Nonsens. Die Musiker galten schon damals als Könner an den Instrumenten und mühten sich stets, neue Wege zu gehen. So darf auch heute noch jeder Bass-Schüler mit Freuden den Slap-Attacken Praekers lauschen. Potschkas Gitarre fand auch ohne viel Solo-Einlagen immer den richtigen Ton. Was den Sound der Band jedoch zu etwas Besonderem machte, waren zum einen die elektronischen Simmons-Drums von Herwig Mitteregger, der den den damals noch völlig außergewöhnlich peitschenden Klang in der deutschen Popmusik etablierte. Neben ihm gelten heute Phil Collins, Steve Negus (Saga) und Bill Bruford (Yes) als Pioniere des elektrischen Schlagzeugs. Zum anderen würzte Keyboarder Heil den Band-Sound mit schon fast industriallastigen Sounds, so dass das Quartett im Studio und auf der Bühne ein wahres Klang-Monstrum auf die Beine stellte. Unter der Ägide von Produzent Udo Arndt, der dem Album eine wunderbare Transparenz verpasste, ohne geleckt zu klingen, nahmen Spliff neun Songs auf, die in ihrer Kompaktheit und Qualität damals jenseits gängiger Kategorien liefen.
Neben dem Chart-Überflieger "Carbonara" erschienen noch zwei weitere Singles, die den Variantenreichtum der Berliner unterstreichen: "Déjà Vu" und "Heut' Nacht". Alle drei Stücke könnten unterschiedlicher kaum ausfallen. Das von Praeker mehr gehauchte als gesungene "Heut' Nacht" ist ein waschechtes Liebeslied, eine zärtliche Lobpreisung der Zweisamkeit und ein Hohelied auf die Magie des Augenblicks, den man verzweifelt festhalten möchte. "Déjà Vu" konterkariert diesen Schönklang mit einer apokalyptischen Soundkulisse, bestehend aus einem Gitarrenriff direkt aus der Kreissäge, einem Slap-Bass der Extraklasse, einem direkt ins Hirn kloppenden Schlagzeug-Pattern und einer Keyboard-Untermalung, die die gespenstische Stimmung noch hervorhebt.
Der Text kann vor lauter Metaphern kaum gehen. Der Legende nach soll die Zeilen "Der rote Hugo hängt tot im Seil, die Leiche stinkt nach Shit. Wie'n weißer Engel, schön wie Schnee, hängt er da, ey, du tust dir noch weh! War'n wilder Kerl mit feuchtem Blick, doch der kommt nie zurück" eine Anspielung auf den Interzone-Sänger Heiner Pudelko bergen. Aber auch ohne dieses Wissen kann man sich auf Rätselreise begeben und darüber sinnieren, welche komischen Figuren auf diesem verdammten Schiff ihr Unwesen treiben.
Alleine diese drei Songs sollten für den Legenden-Status ausreichen. Aber Spliff hatten noch mehr auf der Pfanne und geben heute im Rückblick bei manchen Textpassagen hübschen Geschichtsunterricht. So thematisieren sie in "Computer Sind Doof" und "Kill" neben der zunehmenden Technisierung auch den kalten Krieg, der damals täglich die Schlagzeilen dominierte. Wer weiß heute noch, wer Leonid Breschnew war, oder wer kann sich vorstellen, pro Videospiel-Runde am Arcade-Automaten eine Mark zu bezahlen? So spiegelten die Musiker in ihrer Berliner Insellage die German Angst wider, die die damalige Zeit prägte. Nato-Doppelbeschluss, SDI oder Ronald Reagan, anyone?
Etwas im Schatten stehen dafür "Jerusalem", das einmal mehr das Spliff-Faible für den Off-Beat bezeugt, das Drogen-und-Sex-Stückchen "Duett Komplett" und "Damals". Letzteres kommt in seiner Verschwurbeltheit wie die Fantasie eines hängengebliebenen Drogenkonsumenten daher und breitet auf über sieben Minuten herrlich verschrobenen Sound aus, der verdächtig nah am Sockenschuss entlang schreddert. Dennoch klingt auch das abschließende Stück mit experimentellerer Ausrichtung völlig eigenständig.
Wer wissen möchte, wie der state of the art der Achtziger klang, kommt an Spliff nicht vorbei. Die Songs der Berliner kann man sich auch heute noch anhören, ohne von Synthie-Kitsch oder Gaga-Lyrics peinlich berührt zu sein.
Man kann sich selbstverständlich auch im Falle Spliff streiten, ob nicht ein anderes Album, nämlich der noch düsterere Nachfolger "Herzlichen Glückwunsch", den verdienteren Meilenstein abgegeben hätte. Von der Qualität her nehmen sich die Werke, die beide innerhalb eines Jahres erschienen, nämlich absolut gar nichts. Dass danach kreativ so gut wie alles gesagt war, stimmt traurig, aber mit einem derart heftig lodernden Feuer etablierten die Musiker sich als Band im Olymp der deutschen Musik. Nach ihrem Auseinanderbrechen 1985 knüpfte keiner der Mitglieder auch nur annähernd an dieses Feuerwerk an. So war das damals, liebe Kinder.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
12 Kommentare mit 13 Antworten
Ich finde Carbonara super
https://www.youtube.com/watch?v=Iz8kCvU69l8
Naise, Doz aber krass off-beat
Kleiner Sachlicher Fehler: Reinhold Heil war nie Mitglied bei Lok Kreuzberg. Er kam erst dazu als die Nina Hagen Band gegründet wurde.
ist verbessert
Deja vu ist einer meiner All-time-favourites.
Absolut grauenhaftes Album auf jeder erdenklichen Ebene ist für mich so ein Kandidat für den Titel "Schlechtests Album der 80er Jahre"
Schäm dich für diese Meinung.
Kubi, allah! Siehe Link unter Djangos Post: 90/10 schon gehört?
Nee, immer noch nicht zu gekommen. Gerade nicht so viel Zeit zum hören und wenn treibt es mich irgendwie meist tiefer in die Vergangenheit, so wie bei dieser Scheibe hier. Steht aber noch prominent aufm Zettel.
Schade, dass sich die "Radio Show" nicht auf den streaming-Portalen findet
Alterstechnisch ist das lange vor meiner Zeit erschienen. Klingt für meine Endzwanzigerohren - die natürlich keine Ahnung haben was WIRKLICH gut ist - wie ein schlechter NDW Abklatsch von The Police. Also in so richtig schlecht.
Die Coca Cola-Sonne scheint auf's Neue auf den Glanz uns'rer Republik.
Es gibt bei uns Leute, die finden das schick.