laut.de-Kritik
Wut, Angst und Erregung kanalisiert in einem psychotischen Trip.
Review von Manuel Berger"Alles ist so laut heutzutage. Die Leute bekommen ein ganz falsches Bild von Heavy Music. Sie suchen im Internet danach und stoßen auf Bands wie Cattle Decapitation oder Dying Fetus", erklärt mir Devin Townsend 2012. Doch auch wenn ihm heute seine Ohren heilig sind und er sich in ruhigeren Gefilden heimisch fühlt – der König des extremen Metal bleibt er selbst.
Nachdem er sich als Frontturner bei Saitenhexer Steve Vai einen Namen gemacht hatte, versuchte es HevyDevy 1995 mit eigener Band. Der Albumtitel "Heavy As A Really Heavy Thing" lässt keinen Zweifel daran, wo die Reise hingeht. Die Platte erweist sich als kommerzieller Flop, später distanziert sich ihr Urheber sogar teilweise von der musikalischen Grundausrichtung.
Trotzdem legt "Heavy..." den Grundstein für eine lange, die Musiklandschaft querbeet abgrasende Karriere. Der "verrückte Professor" und mit ihm Strapping Young Lad sind geboren. Der Wahnsinn schimmert an allen Ecken und Enden, meist dreschen Gitarren, Schlagzeug und nicht zuletzt Devins penetrant die Ohren vergewaltigendes Gekreisch dem Hörer gehörig die Scheiße aus dem Leib, nur, um plötzlich mit "Satan's Ice Cream Truck" einen abrupten Kurswechsel durchzuführen.
Diese Exzentrik treiben SYL zwei Jahre später mit "City" auf die Spitze. Inzwischen mit einem festen Line-Up im Rücken veröffentlicht Devin die Scheibe 1997 und erhält endlich die verdiente öffentliche Aufmerksamkeit. Statt wie "Heavy..." 114 Kopien in zwei Jahren abzusetzen, verkauft sich "City" allein in der ersten Woche über 9.000 Mal.
Die Käufer erlitten wohl wenig später den Schock ihres Lebens. Schon der brachiale Opener "Velvet Kevorkian" mörtelt einem so dermaßen die Rübe weg, dass nicht wie oft zitiert Hören und Sehen vergeht, sondern die Augen ungläubig hervorquellen und die Schweißdrüsen unkontrolliert vor sich hin sabbern. Die townsendsche Epik bahnt sich mit ungeheurer Brutalität ihren Weg: "Fuck sleep! Fuck all of you!" Nein, einschlafen kann jetzt bestimmt niemand mehr.
Im Gegensatz zu den meisten seiner unzähligen anderen Alben agiert Townsend auf "City" nahezu völlig humorbefreit. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum diesem Werk eine Sonderstellung innewohnt. Nicht, dass ich Devins Humor nicht mag (im Gegenteil: Master Edele gebührt für seine mickrigen vier "Ziltoid"-Punkte ein Besuch vom Planet Smasher) – es ist nur schlicht eine andere (nicht minder geniale) Baustelle. Gerade durch die übertriebene Angepisstheit offenbart sich auf "City" eine andere Seite seines Humors.
Textlich wie musikalisch lässt Devin seinen Gedanken freien Lauf. Das gesamte Konstrukt "City" gleicht einem stream of consciousness nie dagewesenen Ausmaßes. Frustration, Wut, Angst, Streitsucht und Erregung kanalisiert Townsend in einem psychotischen Trip durch die Abgründe der Stadt, der Industrie, der Menschheit und seiner selbst. Kritiker würden das Ergebnis vermutlich als reines Durcheinander beschreiben. Und hätten damit absolut recht. Ein Durcheinander ist "City" zweifellos, nichtsdestotrotz genial.
Knapp mehr als eine Minute brauchen Strapping Young Lad, um alle bisher gekannten Extreme auszuloten und in Schutt und Asche zu legen. Was der Introtrack stehen lässt, radiert "All Hail The New Flesh" im Anschluss gnadenlos aus. Gene Hoglans brutaler Doublebass fegt wie die konzentrierte Apokalypse über den Hörer hinweg. Der Drumbehemoth blastet sich quer durch das Jüngste Gericht. Zeremonienmeister Townsend erhebt sich aus der Tiefe und ruft sein neues Reich aus: "All Hail The New Flesh"!
Seine bereits jetzt unzerstörbar mächtige Wall of Sound baut Devin sogar noch aus. Die Riffgewitter zermalmen alles und jeden, während Townsend Geräusche in sein Mikro grunzt, keift, rülpst und röchelt, die man einer menschlichen Kehle niemals zugetraut hätte. Es gibt tatsächlich nur eine Möglichkeit, diesen vertonten Wahnsinn zusammenzufassen: "Oh My Fucking God".
Nach dem Misserfolg von "Heavy As A Really Heavy Thing" arbeitete Townsend zwischenzeitlich als Tellerwäscher in einem Nudelrestaurant. Der denkbar schlechteste Job für jemanden, der Geschwindigkeitsräusche liebt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie ein unkontrolliert kreischender Devin mit Psychokillergrinsen in der Visage die ganze Küche demoliert, mit Tellern, Nudeln und Soße um sich schmeißt. Zu allem Überfluss kotzt er den Gästen anschließend noch die Abendgarderobe voll und brüllt lauthals "All I Want Is Mommy!" in die Runde. Irgendwie schafft es der Meister dabei sogar, diesem Chaos Groove einzuhauchen.
Davon besitzt auch "Detox" reichlich. Das Stück beginnt mit einem fast an Pantera erinnernden Gitarrenriff und klotzt kurz darauf tatsächlich mit so etwas wie Gangshouts. Den treibenden, unablässig vorwärts peitschenden Rhythmus des Songs könnte man fast als "Juular"-Vorläufer bezeichnen. Nur wirkt der "Deconstruction"-Track gegen diesen wahnwitzigen Hassbatzen geradezu wie freundliche Kirmesmusik im Disneykarusell.
"The best starts here" verkündet ein Ansager nüchtern durch die Lautsprecher. SYL lassen ihn geradeso den Satz beenden, dann ballern sie schon wieder aus allen Rohren. Ein Maschinengewehr ist Kinderspielzeug dagegen. "Home Nucleosis" macht im Prinzip genau da weiter, wo "Oh My Fucking God" aufhört und fügt "Fuck You" und "Bullshit" noch ein paar hohe Vokalregister hinzu: "I want youuuuu". Am Ende darf sogar noch ein Saxophon hallo sagen. Naja, genauer gesagt versucht irgendjemand, durch dessen zermatschtes Blechgehäuse ein paar kümmerliche Tönchen zu pressen.
Der Zweieinhalbminuten-Abriss räumt die Bühne frei für "AAA": "Boom, boom!" Ein fieser Stampfer vor dem Herrn. Und noch immer ist Devins stimmliches Potenzial nicht ausgeschöpft. Der Typ wärmt sich gerade erst auf. Wie sagt er so schön: "No one fucks with me". Im Phonetischen ganz sicher nicht.
Parallel zu "City" schrieb der Tausendsassa übrigens "Ocean Machine: Biomech", das er im selben Jahr als erstes Album unter eigenem Namen veröffentlichte und darauf eine durchgehend andere musikalische Marschrichtung einschlug. Ebenso wie das spätere DTP-Zweifachrelease "Deconstruction" / "Ghost" markiert dieser Doppelschlag die extreme, kaum fassbare Bandbreite Townsends. Auf der einen Seite "City" mit eruptiven Ausbrüchen und waghalsigen Manövern weit abseits selbst des schlechtesten Wurzelpfades. Auf der anderen die epischen, klar strukturierten Monumente von "Ocean Machine", die zwar ebenfalls ihre ganz eigene Schiene fahren, jedoch auf gänzlich andere Weise funktionieren.
Egal in welcher Welt sich Townsend befindet, Repetition ist fast immer ein wichtiger Bestandteil. In "Underneath The Waves" nutzt der Mikromann sein Gottesorgan, um drohend ein psychotisches Mantra vorzutragen. Die Musik stützt es mit halsbrecherischem Riffgalopp, das sich beinahe selbst überholt, während Gene Hoglan einmal mehr seine Kickdrum penetriert.
Zumindest im anschließenden Track kann sich diese etwas ausruhen. Mit "Room 429" schleicht sich tatsächlich ein Cover ein. Obwohl SYL den Cop Shoot Cop-Song kaum verändern und dieser aufgrund seines langsamen Tempos auf den ersten Blick etwas aus dem Rahmen fällt, passt er als tiefschwarzer Kern nahezu perfekt ins Albumkonzept. Düsterer, industrialischer, creepier geht es kaum.
Geht es doch, denn mit "Spirituality" wartet noch der Endgegner. Der hat es noch einmal richtig in sich und breitet sich vollends im Schlund der Stadt aus. Das Monster hievt sich zunächst schwerfällig und erhaben aus seinem Loch und tanzt schließlich Finsterlevellimbo mit "Room 429".
Anfängliche Raserei endet somit nach gut 39 Minuten in bedrückender Dunkelheit. Und wenn man nach ungefähr derselben Zeit endlich seine Sprache zurückerlangt, dient diese zuallererst dazu, die bisherige Definition des Wortes "Extrem" umzuformulieren. Zum Glück geht das ganz leicht: "City".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 2 Antworten
Ach, man muss den Professor einfach gern haben, auch wenn ich Townsend Soloprojekte insgesamt besser finde.
Das Lied heißt Satan's Ice Cream Truck. "Die Musik stützt es mit halsbrecherischem Riffgalopp, das sich beinahe selbst überholt, während Gene Hoglan einmal mehr seine Kickdrum penetriert." Naja, Herr Bergers Schreibstil tendiert zu oft Richtung amazon-Rezension, aber es zählt ja der gute Wille...
Hm, ist ein gutes Album. Aber Meilenstein? bewegt hat es nichts, mal abgesehen vom vollkommenen etablieren des Townsendschen Stils, welcher einfach unverkennbar ist.
Hab's mir mal zugelegt. Alter Falter! Was ein Wahnsinn. Und erstaunlicherweise hört man trotz der extremen Härte auch Melodien heraus. Eignet sich perfekt, falls man mal Dampf ablassen muss! Echt ne super Scheibe!
Da finde ich "Alien" noch besser. Bessere Songs und bessere Produktion. Aber von der Band lohnt eigentlich alles...
Was, nur 114 Stück wurden vom Erstling verkauft? Zum Glück hab ich eine davon im Regal stehen!
Stimme dem Rezensten zu, dass zwar in dieser Scheibe die Brachialität schon angelegt ist, aber noch etwas sehr zerfasert daherkommt und die einzelnen Tracks bunt zusammengestellt sind (wahrsch. handelt es sich ja um Material, das über die Zeit hinweg zusammengekommen ist). In City hingegen wird es in eine homogene Walze zurechtgezimmert, sicherlich auch dadurch bedingt, dass es sich ab hier um eine echte Band handelt, die mit Gene "the Atomic Clock" Hoglan eine wahres Tier an der Drums sitzen hat.
"Meilenstein" passt meiner Einschätzung nach dennoch gut, da diese Album (zumindest in meinem privaten Umfeld damals) auch bei Nicht-Metalheads große Zustimmung erfahren hat! Was allerdings auch für Tiamats "Deeper Kind Of Slumber" galt, was ich hiermit auch als Meilenstein vorschlagen möchte.
Ich glaube, die ersten 3 Alben fand ich auch gut. Jahre nicht mehr gehoert, vom Townsend Project war 'Terria' das letzte Album. Koennte ich mir heute aber auch alles nicht mehr geben, ohne nach 5 Minuten einzuschlafen.