laut.de-Kritik

Flashbacks und Heartbreaks.

Review von

Je nach Zeitrechnung handelt es sich bei "The Lost Tapes" in der Bandhistorie um das erste Album seit knapp 13, 14 oder 22 Jahren. Im März 2010 war mit "Sweet 7" der letzte Longplayer unter dem Namen Sugababes erschienen, allerdings ohne eine der originalen Stimmen der seit 1998 bestehenden Formation. Anderthalb Jahre zuvor hatte, nach Veröffentlichung von "Catfight & Spotlights", mit Keisha Buchanan das letzte Gründungsmitglied das Trio verlassen. In der eigentlichen Originalbesetzung, zu der neben Keisha auch Mutya Buena und Siobhán Donaghy zählen, war dagegen nur ein einziges Album erschienen: "One Touch", bis heute ein Meilenstein der britischen Pop- und Girlgroupgeschichte. Einmal mehr, da die Künstlerinnen bei Release gerade einmal 15 beziehungsweise 16 Jahre alt waren und an den Tracks mitgeschrieben hatten.

Eigentlich hätte das Album, das unter dem Titel "The Lost Tapes" pünktlich am Heiligen Abend erschien, bereits vor acht Jahren veröffentlicht werden sollen. Damals hatten sich Mutya, Keisha und Siobhán unter dem Namen MKS erneut zusammengefunden, kurz darauf klagte sich Mutya die Rechte am Namen Sugababes zurück. Nach Veröffentlichung der vielversprechenden Single "Flatline" wurden jedoch immer mehr Songskizzen im Internet geleakt, das Album daraufhin ständig verschoben und vom Label Polydor letztlich nie veröffentlicht. Dass die Songs nun überraschend und ohne Plattenfirma verfügbar sind, markiert das Ende eines Erfolgsjahres für die Sugababes, die 2022 erstmals wieder Festivals sowie eine Tour in Großbritannien bespielt haben.

Die 13 Songs, zuzüglich drei Bonustracks auf der Deluxe Edition, sind also nicht neu, zum Teil in Vorabversionen bekannt. Für eine vermeintliche Sammlung an verlorenen Tracks wirkt es fast absurd stimmig. Das liegt zum einen an der bewährten Sugababes-DNA aus drei enorm charismatischen, dennoch sehr unterschiedlichen Stimmen, die gemeinsam Harmonien fabrizieren, die ihresgleichen suchen. Zum anderen an einem sehr abwechslungsreichen Soundbild, das sich klar im Pop verortet. Einflüsse aus Contemporary R'n'B, UK Garage und 80s Synthpop sind dabei willkommene Gäste. Immer dann, wenn diese Mixtur Gefahr laufen könnte, ins Generische abzudriften, bricht der Sound ins Experimentelle. Beispielsweise, wenn Siobhán im C-Part von "Metal Heart" einen extra-dramatischen Break provoziert.

Unter den Co-Writer*innen finden sich zahlreiche Namen, mit denen die Band schon bei ihrem ersten Album gearbeitet hatte. Songwriter und Producer wie Cameron McVey und Paul Simm kennen die Stimmen der Sugababes quasi seit Kindertagen und spielen ihre Stärken gekonnt aus. Auch Kritikerliebling Sia und Ex-All-Saints-Star Shazney Lewis steuern Songs bei, und nicht nur neue Partner*innen wie MNEK, Biffco und Blood Orange bringen frische Impulse mit, die man hört. Insbesondere Siobhán zeigt, wie musikalisch divers ihr solistisches Repertoire ist. Sie bringt es fertig, wie ein Hybrid aus Agnes Obél, La Roux und FKA Twigs zu klingen. Dass sie sich am Songwriting aller Lieder auf dem Album beteiligt, ist da fast geschenkt. Auch Keisha hat bei fast allen Tracks die Finger im Spiel, brilliert mit Blues-Notes und gospelesken Adlibs. Mutya wiederum zeigt mit ihrer charismatischen, tiefen Stimme, warum die Sugababes ohne sie genau genommen nie die Sugababes waren.

Möchte man dem Album einen Vorwurf machen, dann vielleicht den der Monothematik. Selbstredend waren Sugababes-Alben noch nie der Ort für tiefgründige Auseinandersetzungen mit der weltpolitischen Lage. Dennoch ziehen sich im Wesentlichen zwei Themen durch das Album: Heartbreak-Songs à la "Beat Is Gone" und Songs, die die Vergangenheit reflektieren und zugleich mit ihr abschließen wollen. Der Blick zurück zieht sich bis in den "Summer Of '99", der Entstehungszeit von "One Touch". Im gleichnamigen Song besingen die Sugababes etwas cheesy die Zeit, in der sie als Teenies bis sieben Uhr morgens im Studio waren, um anschließend die Schulbank zu drücken. Auch "Back In The Day" lässt den Blick zurück auf die "guten alten Zeiten" schweifen.

Deutlich stärker schafft "No Regrets" den subtilen Spagat, sich sowohl an einen Ex-Lover als auch an die zwischenzeitlich untereinander verstrittenen Bandkolleginnen zu richten: "No heart is hollow, what's past is intro and everything else follows." Schade ist auch, dass eine der besten vorab veröffentlichten Skizzen in der ausproduzierten Version an Magie eingebüßt hat: "I Lay Down", ursprünglich eine Adaption von Kendrick Lamars Welthit "Swimming Pools (Drank)", wirkt ohne das sphärische Original-Instrumental recht blass.

Neben der Power-Ballade "No Regrets" bleiben vor allem das monumentale, von Sia mitgeschriebene "Victory" und die Vorabsingle "Flatline" mit ihrem eher experimentellen Sound im Ohr. Letzteres könnte sich glattweg von einem Solange Knowles-Album auf "The Lost Tapes" geschlichen haben. Absolutes Highlight der LP ist jedoch die Up-Tempo-Nummer "Boys": Siobháns edgy Hook kontrastiert Mutyas rauchige Stimme, die ausreichend Swag in den Song bringt, und wenn Keisha in ihrem Verse mit einem Loverboy abrechnet, ist der perfekte Moment der Platte erreicht.

Am Ende bleibt die Frage: Was wäre, wenn? Wenn Siobhán die Band nach Album Nummer eins nie verlassen hätte? Wenn die LP wie geplant vor acht Jahren erschienen wäre? Wo könnte das Trio heute stehen? Denn eines macht "The Lost Tapes" mehr als deutlich: Hier haben sich drei Stimmen wiedergefunden, die zusammengehören. Der langen Pause steht ein Trost gegenüber: Wenn alles Bisherige nur das Intro war, dürften uns die größten Steps der Sugababes noch bevorstehen.

Trackliste

  1. 1. Drum
  2. 2. Flatline
  3. 3. Love Me Hard
  4. 4. Summer Of '99
  5. 5. Boys
  6. 6. Metal Heart
  7. 7. Beat Is Gone
  8. 8. No Regrets
  9. 9. Today
  10. 10. Victory
  11. 11. I'm Alright
  12. 12. I Lay Down
  13. 13. Back In The Day
  14. 14. Back To Life
  15. 15. Breathe Me
  16. 16. Only You

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