laut.de-Kritik
Akustische Antidepressiva für den Corona-Winter.
Review von Christian KollaschMit der Akustikgitarre gegen den Lagerkoller: Der Punk-Pionier TV Smith spielt sich auf "Lockdown Holiday" den Krisenfrust mit intimen Protestsongs von der Seele und resümiert das elendige 2020 auf eindringliche Weise. Dieses verflixte Corona-Jahr stellte die ganze Gesellschaft auf eine harte Belastungsprobe, die besonders für Kunst- und Kulturschaffende über die Schmerzgrenze hinaus ging und noch weiterhin geht - Fortsetzung folgt 2021.
Für TV Smith, der schon in den frühen 70ern mit seiner Schülerband auf Bühnen stand, die erste Punkwelle mit The Adverts surfte und seit den 90ern als Solokünstler mit seiner Gitarre unermüdlich die Welt bereist, steht das Leben auf dem Kopf. Im Frühling fiel zunächst seine Tour nach fünf Konzerten ins Wasser, wenig später fing er sich im ersten Lockdown selbst das Coronavirus ein.
Für jeden, der sein Glück und natürlich seinen Lebensunterhalt im Scheinwerferlicht bezieht, bedeutet die Krise eine extreme Zerreißprobe. TV Smith macht mit "Lockdown Holiday" aus der unsäglichen Zwangspause das Bestmögliche und vertont seine Sorgen und Gedanken im Homestudio in mitreißenden Akustiksongs. Von energischen Saitenschlägen und Smiths rauer Stimme getragen, liefert das Album akustische Antidepressiva für den Corona-Winter.
Durchhalten heißt das Motto und der Opener "Lucky Ones" stellt erst mal klar, dass hier niemand in Selbstmitleid zerfließen soll. "Sometimes it's hard to believe / But we are the lucky ones", tönt Smith im Refrain und erinnert kurz darauf an die prekären Zustände in europäischen Flüchtlingslagern. Mit "Bounce Back" schiebt der Songwriter gleich einen Upper hinterher, der gerade wegen des reduzierten Arrangements enorm viel Energie freisetzt. Hier leben goldene Liedermacher-Zeiten wieder auf, in denen etwa ein Hannes Wader nur mit einer Gitarre einen Saal zum beben bringen konnte.
Neben der Pandemie gab es für politische Texter wie Smith in diesem Jahr genug Futter, wie etwa das Thema US-Wahl und die die konstanten Fehlinformationen, die der scheidende Präsident Trump dazu auf Twitter verbreitet. Mit "Fake News" kommentiert der Brite das Verhalten mit poetischen Spitzen: "The sun rises on an alien world / Where all the signs have been changed / You set off down a familiar road / Having the blues in your way". Neben dem beherzten Umgang mit seinem Instrument gehören direkte, aber raffinierte Texte wie dieser immer noch zu den größten Stärken Smiths.
Die finden auch im Titeltrack zusammen, wo er zu furiosen Akkorden soziale Ungerechtigkeiten bloßstellt und dem Kapitalismus dabei eine mitgibt: "Nothing matters anyway / It's a lockdown holiday". TV Smith sorgt auch 2020 für Songs aus der fast ausgestorbenen Gattung 'schmissige Arbeiterlieder' und wirkt damit immer noch frisch. Deutlich zarter gibt er sich hingegen auf dem schwärmerischen "I Surf The Second Wave".
Mit Streicheleinheiten für seine Gitarre liefert Smith hier einen Abgesang auf das bewegte Jahr 2020 und versprüht wohlige Melancholie, ohne dabei in Fatalismus zu verfallen. Der wunderschöne Song kann eine Stütze für alle sein, die gerade mit wackeligen Beinen auf dem Surfbrett stehen. Das gilt für das gesamte Album, das Smith als persönliches Wohnzimmerkonzert konzipiert hat. So persönlich "Lockdown Holiday" ist, so individuell kann es aufgenommen werden: als Trostspender, Anti-Stress-Ball oder Mutmacher.
1 Kommentar mit einer Antwort
Heiliger, lange schon keine so miserable Aufnahme gehört.
DR4 -0.10 dB -4.10 dB 3:51 01-The Lucky Ones
DR4 -0.10 dB -4.65 dB 2:41 02-Bounce Back
DR3 -0.10 dB -3.80 dB 3:16 03-Artificial Flowers
DR4 -0.10 dB -4.55 dB 2:54 04-Fake News
DR3 -0.10 dB -4.21 dB 3:28 05-Lockdown Holiday
DR4 -0.10 dB -5.12 dB 3:44 06-Send in the Clown
DR3 -0.10 dB -4.12 dB 2:44 07-The Race for Last Place
DR3 -0.10 dB -4.41 dB 3:13 08-Join the Mainstream
DR4 -0.10 dB -4.94 dB 3:24 09-Let's Go Back to the Good Old Days
DR4 -0.10 dB -4.82 dB 4:02 10-I Surf the Second Wave
DR3 -0.09 dB -4.54 dB 3:20 11-Going Nowhere Fast
Da fallen einem die Ohren ab.
Sieht messtechnisch übel aus - aber glaubst du ernsthaft, das interessiert hier jemanden (außer dich und mich)?
Habe die "Artificial Flowers" mal lossless gestreamt, da zerrt wirklich alles. Musikalisch toll, aber muss man Akustisches wirklich so ins Rote fahren?