10. August 2016

"Von Streaming kann ich mir nicht mal Pizza kaufen"

Interview geführt von

Weltpremiere in intimer Runde: Anfang Juni 2016 lädt Tarja Turunen zum geselligen Beisammensein in die Londoner Metropolis Studios ein. Auf der Gästeliste: Ihre treusten Fans, die heute erstmals ausgewählten Stücke ihres vierten Soloalbums "The Shadow Self" lauschen dürfen – und zwar live. Nachdem uns die Vorabplatte "The Brightest Void" nur bedingt überzeugte, trafen wir die ehemalige Nightwish-Fronterin einen Tag später persönlich, um die Eindrücke der Show Revue passieren zu lassen.

Tarja, willkommen zurück! Wie war es für dich, die neuen Songs erstmals live zu spielen?

Es war ziemlich besondere Erfahrung, ich war natürlich auch nervös. Die Premiere vor so einer intimen Schar von Hardcore-Fans zu feiern, die mich schon sehr oft haben performen sehen – wow.

In welcher Form wird die gestrige Show denn erscheinen?

Sie wird Teil meines kommenden Livealbums "Act II" sein, als Bonus, denke ich. Wir werden dafür jedenfalls noch eine Show der anstehenden Tour aufnehmen. Wir haben auch schon bei einigen Festivals mitgeschnitten, da kommt also gut was zusammen.

Apropos Bonus: Hat da gestern nicht der großartige Trance-Hidden-Track gefehlt?

Oh Gott! (lacht) Das muss natürlich als Scherz gesehen werden, genau wie dieser Thrash-Metal-Part. Wobei beide Teile schon recht professionell eingespielt sind. Meine Musiker wurden da durchaus gefordert. Für diesen Dance-Part habe ich dann mit meinem Kollegen Torsten Stenzel zusammengearbeitet, aber wie gesagt, das ist natürlich alles als Witz gemeint. Aber ich stehe natürlich trotzdem darauf, meine Fans zu schocken und sie herauszufordern. Das hört man ja auch auf dem Album.

Auf "The Brightest Void" sind tatsächlich viele elektronische, fast schon industriallastige Parts zu hören.

Diese Songs, wie zum Beispiel "An Empty Dream" und "Witch Hunt", sind meiner Meinung nach ziemlich kinematographischer Natur. Ich arbeite dafür auch mit richtigen Filmkomponisten zusammen. Ich mag es ja sonst immer äußerst lebhaft, mit vielen Gitarren, aber diese beiden Songs sind mein kleines Filmprojekt. "The Brightest Void" war für mich die perfekte Gelegenheit, um diese Seite auszuleben. Denn irgendwann habe ich gemerkt, dass ich einfach zu viele Songs für ein einzelnes Album habe. Und ich stehe wirklich nicht auf Bonustracks. Ich fand die Songs aber einfach zu stark, weshalb dieser Gedanke an ein Prequel ins Spiel kam. Und da konnte ich dann auch die beiden Songs verwerten. "An Empty Dream" ist jetzt sogar im argentinischen Film "Corazón Muerto" gelandet.

Die Grundstimmung dieser Tracks ist ja relativ kühl angesiedelt. Ist der elektronische Touch denn Mittel zum Zweck? Willst du damit ein spezielles emotionales Spektrum abdecken?

Ich kenne natürlich ziemlich viele talentierte Leute, darum kann ich mir genau aussuchen, welcher Produzent für welchen Song der richtige wäre. Manchmal geht das kalkuliert vonstatten, manchmal aus einem gewissen Flow heraus. Aber hier wollte ich natürlich mit komplett anderen Instrumenten arbeiten.

Wie du schon sagst, du arbeitest auf beiden Alben mit vielen bekannten Kollegen zusammen. Versuchst du, durch diese Kooperationen deinen eigenen musikalischen Horizont zu erweitern? Oder sind das einfach freundschaftliche Gesten. Chad Smith bringt ja beispielsweise nicht gerade typische RHCP-Funk-Rock-Vibes ein.

Oh, Chad kam über meinen Bassisten ins Gespräch, mit dem er schon länger zusammen Musik macht. Ich war mir zunächst selbst nicht sicher, aber nun spielt er tatsächlich auf mehreren Tracks. Es ist diese große Auswahl – ich bin dankbar und froh, dass ich so viele Musiker miteinbeziehen kann.

Außerdem featurest du Alissa White-Gluz von Arch Enemy. Als Metal-Sängerin ist sie sowohl für klaren als auch gutturalen Gesang bekannt. Da du ja mittlerweile auch selbst oft etwas rockiger singst: Wann hören wir dich denn endlich mal screamen?

Oh nein, nein, nein, ich glaube, diese Welt werde ich nie betreten. Das ist mir wirklich komplett fremd. Aber auf diesen beiden Alben geht es mir ja in der Tat um allerhand Kontraste – und Alissa ist gewissermaßen mein Gegenpart im Metal. Ich habe vielleicht die klarste Stimme, sie die harscheste. Es passt also perfekt. Sie hat das auf ein neues Level gehoben. Trotzdem wollte ich unbedingt, dass sie auch Klargesang beiträgt, denn das hat sie genauso super drauf. Aber ich habe wirklich null Ahnung von Screaming, keine Ahnung, wie so etwas funktioniert.

"Jüngere Leute verstehen nicht, dass Musik überhaupt einen Wert hat"

Auf "The Shadow Self" coverst du zum Beispiel Muse, eine Band die ebenfalls elektronische Elemente aufgreift. Außerdem nehmen sie einen gewissen Vorreiterstatus in einer neuen Ära progressiver Musik ein. Jetzt, da der sogenannte Progressive Metal ohnehin floriert – hättest du Lust, dich auch vermehrt in derlei Genres zu betätigen?

Ja, ich glaube, da wachse ich inzwischen ohnehin immer mehr rein – auf natürliche Art und Weise. Ich beschäftigte mich seit meiner Kindheit mit Musiktheorie, und es ist ziemlich hart von diesem Richtig-Falsch-Denken wegzukommen.

Aber ein gewisser theatralischer Artrock-Vibe schimmert bei dir seit jeher durch.

Ganz bestimmt, Bands wie Genesis liebe ich schon seit vielen Jahren, und Peter Gabriel ist mit Abstand einer meiner größten Inspirationen, gerade seine Solosachen. Aber ich mag progressive Musik generell sehr, sehr gerne. Der große emotionale Umfang dieser Musik, das ist genau das, was mich anspricht. Auf der anderen Seite ist mir natürlich auch das Symphonische sehr wichtig, was sich ja sehr gut kombinieren lässt. Ich liebe es, einfach mal ein wenig abzudrehen.

Wobei deine Stimme schon viel Raum einnimmt.

Auf jeden Fall, genau das ist die große Herausforderung. Aber ich stehe auf Herausforderungen. Gerade bei den Arbeiten für "The Shadow Self" habe ich gemerkt, dass weniger manchmal mehr ist. Ich würde da als Produzent selbst einfach nur irrewerden. Aber Tim Palmer ist einfach großartig darin – ich liebe seinen Sound.

Du nennst "The Shadow Self" dein musikalisch bisher härtestes Album. Als du mit meinem Kollegen damals über "Colours In The Dark" gesprochen hast, hieß es aber auch, du würdest gerne mehr 'durchgeknallte Parts' integrieren. Ist dir das rückblickend gelungen? Oder blockieren sich harte und verrückte Parts gegenseitig?

Nicht unbedingt. Es ist, wie du meintest, dieses Theatralische, das einfach immer Teil meiner Musik sein wird. Das bin einfach ich, alleine schon wegen meines klassischen Hintergrunds. Ich habe das Theater immer geliebt. Ich liebe diese Ungewissheit, manchmal bringt es dich zum Lachen, manchmal zum Weinen. Ich denke, auf dem Album passieren viele verrückte, durchgeknallte Dinge, aber das Fundament ist eben genau dieses organische Feeling.

Ein anderes Thema: "The Brightest Void" wurde ja zunächst exklusiv auf Apple Music vorgestellt.

Ich glaube, das war einfach eine Business-Sache, damit die Leute schon mal reinhören können.

Du bist aber jemand, der schon vor der großen Download-Ära Erfolge feiern konnte. Wie stehst du zum Streaming-Zeitalter?

Wenn es um neue Alben geht, bin ich ein sehr konservativer Mensch. Es ist mir sehr wichtig, genau am Artwork und allen einzelnen Facetten zu arbeiten, alles muss zusammenkommen. Ich selbst nutze keine Streaming-Dienste, und ich verdiene auch nichts mit ihnen. Also wirklich gar nichts, nicht mal eine Pizza. Trotzdem ist das Internet natürlich eine unfassbar große Informationsquelle. Wenn du weißt, wie du damit arbeiten kannst, ist es großartig. Ich musste da in all den Promotion-Dingen erst mal einiges lernen. Aber Streaming ist halt wichtig für die Kids heutzutage.

Entwertet es deine Kunst?

Wenn du mit jüngeren Leuten sprichst, merkst du, dass sie gar nicht verstehen, dass Musik überhaupt einen wirklichen Wert hat. Jedenfalls können sie es nicht wertschätzen, wie wir es einst getan haben. Von daher, ja schon. Du hast eben nichts Physisches mehr in der Hand.

"Nightwish ist die Vergangenheit"

In deiner Heimat Finnland giltst du fast schon als Celebrity-Star – weshalb du jetzt sogar deinen eigenen Emoji bekommen hast. Ich finde, ich bräuchte langsam auch mal meinen eigenen. Hast du Tipps für mich?

Sprich mit deiner Regierung! (lacht) Ich habe ehrlich keine Ahnung, wie es dazu kam, aber es ist natürlich eine supercoole Sache. Diese Auswahl soll mein Heimatland repräsentieren – und das ist ohne Frage eine große Ehre.

Wie ist es denn generell für dich, Bestandteil der nationalen Popkultur zu sein? Was magst du an Finnland, was mögen die Finnen an dir?

Bin ich das? Ich weiß es nicht mal so genau. Man sagt, "Du kannst kein Prophet in deinem eigenen Land sein." Ergo bin ich mir gar nicht so sicher, ob man meine Aktivitäten dort so genau verfolgt werden. Natürlich kennt man mich aus dem Fernsehen, aber ich war auch schon eine ganze Weile lang nicht mehr dort. Trotzdem ist meine Liebe zu Finnland ungebrochen. Ein Fan schrieb mal: "Du bekommst ein Mädchen aus Finnland heraus, aber du bekommst niemals Finnland aus diesem Mädchen."

Aber auch in Deutschland erfreust du dich großer Beliebtheit. Du hast hier studiert, bei nationalen Sportevents gesungen und sogar ein paar deutsche Lieder bei deiner letzten Weihnachtstour gesungen.

Und es wird schon bald eine ziemliche spezielle Überraschung für meine deutschen Fans geben. Aber mehr sollte ich dazu wohl nicht sagen.

Oh, okay! Wie gut sprichst du denn überhaupt Deutsch?

Eigentlich verstehe ich fast alles.

Das heißt, ich hätte hier gar nicht die ganze Zeit alles auf Englisch fragen müssen?

Oh, haha, doch, bitte, bitte, bitte! Ich musste eben schon ein Interview auf Spanisch führen, das war anstrengend genug. Aber in Deutschland habe ich ja auch drei Jahre gelebt, und die Zeit dort wirklich genossen. Da musste ich mich natürlich auch vom ersten Tag an auf Deutsch verständigen. Aber ich glaube, ich bin in der Sprache einfach zu schüchtern.

Noch mal zu deinen Weihnachtskonzerten: Normalerweise singst du auf Englisch, bei den vielen Traditionals kommen auch andere Sprachen hinzu. Hattest du früher nie die Ambition, in deiner Muttersprache zu singen? Würde es sich nicht natürlicher anfühlen?

Das würde mir sehr, sehr schwerfallen. Da hätte ich große Angst, kitschig zu klingen. Es ist so eine anspruchsvolle Sprache. Beim Schreiben meiner wenigen spanischen Songs geht es mir ganz ähnlich. Es ist enorm schwierig, etwas zu schreiben, dass nicht irgendwie cheesy klänge – weder für mich noch für meine finnischen Fans. Und ich halte meine Texte gerne recht offen, sodass die Leute sich ein eigenes Bild machen können. Im Finnischen wäre es sehr viel limitierter.

Eine letzte und die einzige auf Nightwish bezogene Frage: Du hast viele verschiedene Projekte am Laufen und dementsprechend eine großen Fundus, wenn du die Setlists für Tourneen zusammenstellst. Trotzdem gibt es bei deinen Konzerten meistens nur einen einzigen Nightwish-Song zu hören. Deine Fans mögen dich aber gewiss für beide Karriereabschnitte. Gefallen dir die alten Songs selbst nicht mehr oder ist es dir wichtig, die Vergangenheit hinter dir zu lassen?

Also wie gesagt, es wird auf jeden Fall eine Überraschung für Nightwish-Fans geben, über die ich noch nicht mehr erzählen kann. Natürlich bin ich jedem Nightwish-Fan, der mir nach all den Jahren auch heute noch treu ist, sehr, sehr dankbar. Aber meine Musik hat mich inzwischen auf andere Pfade geleitet. Trotzdem versuche ich, für jede einzelne Stadt nachzuvollziehen, was wir dort beim letzten Mal gespielt haben und im Set entsprechend zu variieren. Trotzdem ist Nightwish meine Vergangenheit – auf die ich ewig stolz sein werde. Aber die Vergangenheit muss einfach nicht die Hauptrolle bei meinen Konzerten spielen.

Also ist dieser eine Song dann in der Regel einfach ein Zugeständnis an die Fans?

Oh nein, das ist definitiv auch eine schöne Sache für mich. Viele Sachen haben ja immer noch eine persönliche Bedeutung für mich. Und es mit meinen Jungs zu spielen, das gibt dem Ganzen direkt wieder ein frischeres Feeling. Etwas Neues entsteht.

Tarja, besten Dank und dir alles Gute!

Bis dahin!

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