laut.de-Kritik
Mit Songs über Kindheits-Traumata in die Charts.
Review von Michael SchuhZum 30. Geburtstag des Tears For Fears-Debütalbums "The Hurting" erschien 2013 ein aufwendiges 4-CD-Boxset mit der üblichen Bonustrack-Packung sowie einem Tourprogramm-Replikat mit unveröffentlichten Fotos. Letzteres eher kein Gefallen an die Band, da Bassist und Sänger Curt Smith wohl unangefochten Pate für die grausamste Frisur-Entgleisung der frühen 80er Jahre steht: Vokuhila mit integrierten Zöpfen. Aus optischer Sicht kaum verwunderlich, dass Tears For Fears im Frühstadium ihrer Karriere noch als Support für die längst vergessenen Thompson Twins ranklotzen mussten.
Mit derart niederen Tätigkeiten ist nach der Veröffentlichung von "Mad World" Ende 1982 abrupt Schluss: Die melancholische Single rauscht in Großbritannien bis auf Platz 3 (das zuvor veröffentlichte und gefloppte "Pale Shelter" erscheint in einer neuen Version 1983 abermals). Bekannt ist das Quartett aus dem im Südwesten Englands gelegenen Bath in erster Linie als Duo und eigentlich für einen Song eines ganz anderen Albums: Das martialische E-Drum-Gepolter von "Shout" mit seinem abzählreimartigen Refrain-Mantra zählt heute neben dem sexuell aufgeladenen Bombast von Frankie Goes To Hollywoods "Relax" und Depeche Modes Radio-Industrial "People Are People" zu den bekanntesten Synthie-Pop-Songs des Jahrzehnts.
Weltzugewandt, beinahe selbstbewusst präsentierte sich die Band auch auf "Everybody Wants To Rule The World" und "Head Over Heels" - wie "Shout" vom 1985er Studioalbum "Songs From The Big Chair" - insgesamt ein radikaler Bruch zum schwermütig-dunklen Debütalbum zwei Jahre zuvor, das dank seiner atmosphärischen Intensität zum Genre-Klassiker reifte. Wo der Nachfolger Stadiontore eintritt, versteckt sich "The Hurting" noch verängstigt unter dem Tisch. Die eröffnenden Zeilen der Platte lauten denn auch: "Is it an horrific dream / Am I sinking fast /could a person be so mean / as to laugh and laugh".
Auch das Cover versprüht grüblerische Introspektion: Die Chef-Songwriter Roland Orzabal (stehend) und Curt Smith blicken verträumt bzw. missmutig in die Ferne, unzufrieden mit so ziemlich allem, was sich in ihrem Leben bereits angestaut hat. Beide hatten ältere und jüngere Geschwister und wurden ohne Vater großgezogen. Orzabals Vater misshandelte die Mutter, Smiths Vater starb, als Curt 17 Jahre alt ist.
Geteiltes Leid ist halbes Leid: Smith und Orzabal nennen sich zunächst History Of Headaches, bevor sie sich im Bezug auf Arthur Janovs Psychotherapie-Standardwerk "Urschrei" Tears For Fears nennen. Auch "Mad World" bezieht sich auf Janov. Die Zeile "I find it kind of funny / I find it kind of sad / The dreams in which I'm dying / Are the best I've ever had" interpretieren dessen Idee, dass Alpträume eine entspannende und somit heilsame Wirkung entfalten können. Die unendliche Traurigkeit von Melodie und Text wurde einer neuen Generation im Jahr 2003 dank einer gefühlvollen Interpretation des US-Songwriters Gary Jules bewusst, die auf dem Kultfilm "Donnie Darko" erschien.
Die Traumata ihrer Kindheit fließen auch in "Pale Shelter" ein, dessen Refrain eine Anklage an die Eltern darstellt: "When you don't give me love / You gave me pale shelter / You don't give me love / you give me cold hands". Es ist schwer vorstellbar, dass dieselben Songwriter kurz zuvor noch in einer Ska-Band Madness nacheiferten, bevor Gary Numans Erfolge mit Synthesizermusik sie zum Umdenken bewegte. Der Plan war, so Orzabal 30 Jahre später: "Reich und berühmt werden und in Therapie gehen."
"The Hurting" traf 1983 einen Nerv. Kaum ein anderes Album setzte sich so offen mit den problematischen Gefühlswelten und depressiven Verstimmungen auseinander, die man als Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsenen durchlebt. Daher ist der damals von Kult-Radio-DJ John Peel angestrengte Vergleich mit Joy Division auch gar nicht abwegig. "I can't understand you / this is the start of a break down", schluchzt Orzabal im letzten Stück des Albums, das einem Epilog gleichkommt. Alle Songs gehen auf sein Konto, wobei Orzabal stets betonte, wie unersetzlich Smith für deren Umsetzung gewesen sei.
Zumal Smith mit "Mad World", "Pale Shelter" und "Change" alle Hitsongs als Sänger verantwortet. Seine weichere Stimme eignete sich oft besser für die melancholischen Songs. Orzabal krallt sich mit dem verzweifelten "Memories Fade" dafür ein weiteres Highlight des Albums. Im Opener "The Hurting" teilen sich beide den Gesang.
Jüngere Musiker-Semester, darunter La Roux, Kimbra und Lorde, preisen gerne das folgende, weit erfolgreichere Album und auch Lauryn Hills vielzitierte Breakdance-Moves zu Songs der Band dürften kaum zu Emo-Brechern wie "Mad World", "The Prisoner" oder "Ideas As Opiates" stattgefunden haben. Gemeinsam mit Drummer Manny Elias und Keyboarder/Programmierer Ian Stanley konzipierten Orzabal und Smith eine Palette an vorwiegend synthetischen, leicht gruseligen Songs, deren rhythmisches Gewicht nebenbei Rückschlüsse auf Alben wie Bowies "Scary Monsters" und "Remain In Lights" von den Talking Heads zulassen.
Der Einfluss dieses Debütalbums spiegelte sich in ganzen Karrieren wieder (Coldplay, Keane) oder schummelte sich in gesampelter Form in Songs von Kanye West ("Memories Fade" auf "Coldest Winter") und The Weeknd ("Pale Shelter" auf "Starboy"). Das stimmige Original-Artwork wurde im Zuge des großen Re-Releases 2013 zugunsten des Single-Covers von "Suffer The Children" ausgetauscht und zeigt ein Kind, das seinen Kopf in den Händen vergräbt, was das Thema des Albums nach Ansicht der Komponisten wohl besser symbolisiert. Über seine damalige Frisur muss Curt Smith dann praktischerweise auch nicht mehr sprechen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 8 Antworten
Eine der besten Popbands der Achtziger!
Pale Shelter
Woman in chains
Sowing in the seeds of love
Advice for the young at heart
Head over heels
um nur einige zu nennen. auch heute unpeinlich hörbar.
gleich mal den streamingdienst des vertrauens anschmeissen.
Tears Roll Down nicht zu vergessen.
Nie meinen Nerv getroffen, aber ich hör mal rein, Nerven ändern sich.
Absolut verdient.
♥
Superalbum. Der Nachfolger ebenso.
Das 1989er Seeds of Love ist wieder ganz anders, aber auch toll. Hoffentlich gibt's davon dann nächstes Jahr auch eine 30-Jahre-Jubiläums-Super-Deluxe-Edition.
Hat mich umgehauen. Hat mein Kumpel aus England mitgebracht und ich habe das Album rauf und runter gehört.
Tolle Band und würdiger Meilenstein!
The Hurting hatten wir doch erst am Sonntag
Ich nehme an, du hast in trauernder Solidarität danach genau fünf Kisten Oettinger leer gemacht? Oder dann doch Holsten?
Holsten ist mir zu teuer das gibt mein Busfahrergehalt nicht her. Für eine Popcornmaschine hat es aber gereicht
Und hoffentlich auch für das Popcornfett mit Butteraroma.
#coddncändiseason ist wieder over. 80€ schön verpulvert.
Ne, das war clever angelegtes Kapital!
https://www.youtube.com/watch?v=FcRTP-vRXJM
Hammer-Album. Zeitlos & schön.