laut.de-Kritik

Wenn Brian Wilson nicht durchgeknallt wäre, hätten wir heute Weltfrieden.

Review von

Musiker und Musikjournalisten faseln oft von der Suche nach dem perfekten Pop-Song und vergessen, dass die Suche danach bereits am 16. Mai 1966 mit dem Erscheinen von "Pet Sounds" für beendet erklärt wurde.

Vielleicht muss man diese oft süßlich klebende Welt voller Kitsch und Harmonien nicht mögen, respektieren um so mehr. Eine ganze Epoche der Musikgeschichte und auch unsere heutige Musiklandschaft würde ohne das Genie von Brian Wilson und "Pet Sounds" anders klingen. Noch heute schlägt sich diese Phase der Beach Boys in der Arbeit von Künstlern wie Sufjan Stevens, Bright Eyes oder The Shins nieder. Wer dies nicht glaubt, lehne sich in seiner Lieblingssitzgelegenheit zurück, lässt im besten Fall die Nadel sanft auf das Vinyl der B-Seite gleiten und lausche den ersten Klängen von "God Only Knows".

Wie sagte Bono von U2 im Jahr 2006 bei Wilsons Aufnahme in die UK Music Hall of Fame so treffend: "Die Streicher-Arrangements auf 'God Only Knows' sind in der Tat der Nachweis, dass es Engel gibt." Der Mann nimmt häufig den Mund zu voll und nervt nicht selten, aber in diesem Fall trifft er den Nagel auf den Kopf.

1966: Zwischen den Beach Boys und den Beatles ist ein Zweikampf entfacht. "Pet Sounds" gilt als Antwort auf "Rubber Soul" (1965). Wilson wollte das beste Album aller Zeiten komponieren und produzieren, um den Beweis anzutreten, dass er der beste Songwriter ist. Paul McCartney war von "God Only Knows" zu Tränen gerührt und schickte seine Pilzköpfe zurück ins Studio, um deren aktuelle Aufnahmen nochmals zu überarbeiten. "Ohne 'Pet Sounds' hätte es 'Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band' nicht gegeben. 'Sgt. Pepper' war ein Versuch, 'Pet Sounds' gleichzukommen", kommentierte Beatles-Produzent George Martin. Gleichzeitig war "Sgt. Pepper" auch der vorläufig letzte Sargnagel auf "Smile" und Teil des tragischen Niedergangs von Brian Wilson.

Nach einem Nervenzusammenbruch 1964 gibt der musikalische Kopf der Beach Boys das Tourneeleben auf und während die anderen weiterhin das schöne Leben am Strand besingen, schließt er sich im Studio ein. Er beginnt mit LSD und anderen Drogen zu experimentieren und arbeitet mit Gastmusikern an seiner Vision. Als der Rest der Band von einer Japan- und Hawaii-Tour zurückkehrt, werden sie vor vollendete Tatsachen gestellt und zu Statisten degradiert.

"Pet Sounds" bietet Melodieführung par excellence, findet seine Inspiration mehr in der Klassik als in der Rock- und Popmusik der damaligen Zeit. Teils Sinfonie, teils Rhapsodie, verarbeitet es die Kindheit und den Verlust der Unschuld.

Hierfür verbarrikadierte sich Wilson mehrere Monate mit den Aufnahmen im Studio, ein für damalige Verhältnisse ungeheuerlicher Akt. Er erschuf Welten, die nur auf Band existieren und live in dieser Form nicht wiederzugeben waren, arbeitete mit klappernden Löffeln, Cola-Dosen, Hundegebell und Fahrradklingeln.

Sein musikalischer Partner während dieser Zeit war Tony Asher, der ihm größtenteils die Texte für "Pet Sounds" zuspielte. Wilson lenkte und editierte. Ihr gemeinsames Ziel war es, die Beach Boys von ihrem Sommer/Palmen/Sonnenschein-Image zu befreien.

"Viele Menschen träumen von der ewigen Sonne Kaliforniens. Ich bin zwar am Meer aufgewachsen, blieb aber meist in meinem Zimmer und träumte von Melodien. Mich störte schon, dass ich mein Klavier nicht mit an den Strand nehmen konnte", erzählte Wilson erst kürzlich der Zeit. "Ich war immer ein untypischer Kalifornier - meine Stimmung ist oft nicht so sonnig. Seit ich mich erinnern kann, habe ich diese Anflüge von Melancholie, woher genau die kommen, weiß ich nicht. In mein Wohnzimmer ließ ich mir irgendwann einen riesigen Sandkasten bauen, in den ich mein Klavier stellte. So hatte ich einen Strand für mich allein."

Über allem thront "God Only Knows", der erste Popsong, der das Wort 'Gott' im Titel enthält. Eingespielt mit damals undenkbaren Instrumenten wie Waldhorn und Cembalo, war er die bis dahin aufwändigste Produktion der Beach Boys. "God Only Knows" verbeugt sich vor dem Barock und seine Einflüsse gehen zurück bis zu Johann Sebastian Bach. Ebenso untypisch wie das Arrangement gestaltete sich der Text, für dessen Beginn Asher erst mit Wilson kämpfen musste, dem die Einstiegsworte "I may not always love you" für ein Liebeslied zu negativ waren. Erst mit den folgenden Worten "But long as there are stars above you / You never need to doubt it / I'll make you so sure about it" zeigt sich, dass "not always" immerhin eine verdammt lange Zeitspanne darstellen kann. Ashers Kampf hatte sich gelohnt.

Die Leadstimme überließ Brian seinem Bruder Carl, erst im abschließenden Kanon kommen er und Bruce Johnston hinzu. "Ich war so glücklich, dieses Lied zu singen. Es ist so wunderschön geschrieben, es singt sich wie von selbst. Brian sagte noch kurz vorher zu mir, ich solle nichts ändern, einatmen, mich gehen lassen und einfach singen."

"Don't Talk (Put Your Head On My Shoulder)" und "Caroline, No" sind komplett ohne die anderen Beach Boys entstanden. Brian singt alleine, ohne Backgroundgesang. Zwei bezaubernde Momente, voller Verzweiflung, Verlust aber auch begleitender Wärme. Die Zeile "And let me hear your heart beat" in "Don't Talk (Put Your Head On My Shoulder)", die sich an einen wunderbaren Akkordwechsel kuschelt, gehört zu den berauschendsten Momenten auf "Pet Sounds".

Die Entscheidung, anstelle von "Good Vibrations" mit "Sloop John B." die Interpretation eines karibischen Folksongs zu veröffentlichen, kam für die restlichen Beach Boys überraschend. "Wir sind alle davon ausgegangen, dass 'Good Vibrations' auf dem Album sein würde", erinnert sich Al Jardine. "Brian hatte aber beschlossen, das Lied noch eine Weile zurückzuhalten."

Naturgemäß waren nicht alle vom neuen Weg begeistert. Mike Love konnte wenig damit anfangen, fragte Wilson, wer das bitte hören solle ("Ein Hund?") und bat ihn in netten Worten, "not to fuck with the formula". Als er sich in den Neunzigern unsauber in einen Teil der Texte einklagte, schien sich dieser Standpunkt zumindest kommerziell geändert zu haben.

Auch Capitol Records zeigte kein Verständnis. "Das Album war gegenüber 'Barbara Ann' ein radikaler Schnitt. Die alten Beach Boys ließen sich so erfolgreich verkaufen, Capitol wollte einfach mehr davon", erklärt Bruce Wilson. "Sie wollten 'Pet Sounds' nie fördern, da sie dachten, die Menschen würden es nicht verstehen. Sie waren der Meinung, dass dies nicht die Richtung wäre, in die wir gehen sollten, also haben sie es nicht beworben."

Zuerst sollte es überhaupt nicht veröffentlicht werden, später brachte Capitol nur eine auf 250.000 Stück limitierte Auflage heraus. Sicherlich auch ein Grund, warum "Pet Sounds" erst im Jahr 2000 Goldstatus erreichte. "Musik ist Brian Wilsons bester Freund, Liebhaber, alles. Es ist das einzige, das ihm nie Unrecht getan hat. Sobald Menschen, Plattenfirmen und Klatsch ins Spiel kamen, liefen die Dinge schief. Aber die Musik verriet ihn nie", erklärte Van Dyke Parks, Texter von "Smile".

Für Wilson folgten nach "Pet Sounds" und dem gescheiterten "Smile" viele wirre Jahre, in denen er wochenlang im Bett blieb, sein Körpergewicht auf 150 Kilo anwuchs und er von seinem Bruder Dennis mit Hamburgern, Fritten und Kokain ins Studio gelockt wurde. Manisch-depressiv und paranoid-schizophren verbrachte der Komponist einen Großteil seines Lebens zurückgezogen. Unvorstellbar, welche musikalischen Meisterstücke und Einflüsse uns durch diese Jahre verwehrt blieben. Wenn Brian Wilson nicht durchgeknallt wäre, hätten wir heute Weltfrieden.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Wouldn't It Be Nice
  2. 2. You Still Believe In Me
  3. 3. That's Not Me
  4. 4. Don't Talk (Put Your Head On My Shoulder)
  5. 5. I'm Waiting For The Day
  6. 6. Let's Go Away For Awhile
  7. 7. Sloop John B.
  8. 8. God Only Knows
  9. 9. I Know There's An Answer
  10. 10. Here Today
  11. 11. I Just Wasn't Made For These Times
  12. 12. Pet Sounds
  13. 13. Caroline, No

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13 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 12 Jahren

    Hach! Wunderbar. Dankeschön. Das ist eine der Platten, die ich fast immer dabei habe.

  • Vor 12 Jahren

    Eine der Platten, die heute in meiner Generation kaum noch Anklang finden, weil sie vielen einfach zu süß und brav klingen. Es ist sehr schade, daß Musik für viele bestimmten Attitüden von Härte oder Melancholie entsprechen muss. Lässt man diese eigenartigen Ansprüche aber mal beiseite und hört "Pet Sounds" einfach nur zu, erschließt sich eines der vielseitigsten und wunderbarsten Werke, die im letzten Jahrhundert überhaupt aufgenommen wurden. Das Album hält eine bis heute kaum erreichte Balance zwischen vielspurig-epischer Instrumentierung und melodischer Eleganz. Nebenbei berührt und bewegt es wie kaum ein anderes Pop-Album.

    Ja, ich bin jetzt wirklich etwas euphorisch, das gebe ich zu. Wer sich allerdings als Musikliebhaber bezeichnet, sollte ein "Pet Sounds" zumindest im Regal stehen haben.

  • Vor 12 Jahren

    Fehlt mir immer noch. Die Songs, die ich davon kenne, sind alle fantastisch, allen voran "God Only Knows" (das sich auch herrlich ironisch verwenden lässt, wie der Vorspann der HBO-Serie "Big Love" gezeigt hat).