laut.de-Kritik
Gemeinsam raus aus dem Schatten der heilen Welt.
Review von Jan HassenpflugWie viele gute Geschichten beginnt auch diese mit einem Blick zurück. Die Jahrtausendwende liegt gerade hinter uns. Bands wie As I Lay Dying, Killswitch Engage oder Darkest Hour sind eifrig dabei, einem Subgenre den Weg zu ebnen, das in den Folgejahren zu einer der größten Kontroversen in Sachen tiefergestimmte Gitarrenmusik heranwächst: Metalcore. Wo die lange Mähne bisher stolz jenseits des Mainstreams geschüttelt wurde, locken tieftraurige Melodien plötzlich ein neues Publikum an.
Moment mal! Dank poppiger Refrains, zweifelhafter Frisurentrends und punktgenau inszenierter Breakdowns soll harte Mucke plötzlich für eine breite Masse an Teenies als Identifikationsgrundlage herhalten? Das entspricht weder dem technisch-nerdigen Anspruch vieler Metal-Fans, noch der rebellisch-politischen Grundhaltung der Hardcore-Community. Doch einmal geöffnet, lässt sich die Büchse der Pandora bekanntlich nicht mehr schließen. Und so prägen beide Einflüsse eine neue Melange: Mit Bands wie A Day To Remember, Bullet For My Valentine oder Bring Me The Horizon schwingt sich gelebte Emotionalität innerhalb der Metal-Szene zur Modeerscheinung auf.
Unweigerlich stellt sich die Frage: Wäre das nicht auch innerhalb von Metal oder Hardcore möglich gewesen, ohne die Authentizität beider Einzelteile, derart zu untergraben? Wahrscheinlich nicht. Schließlich fühlen sich beide Genres in ihrer Außenseiterrolle, weit weg vom Kommerz, pudelwohl und definieren sich sogar darüber. Dennoch gibt es rund um die Grenzbereiche spannende Ausnahmen. Während Comeback Kid im Hardcore neue Maßstäbe setzen, genießen Parkway Drive in Metal-Kreisen eine gewisse Immunität dafür, dass sie technische Zerstörungswut über jeden Hang zur Melodie stellen. Es scheint, als ob einzig der Überschuss an Emotionalität jede Authentizität verhindert. Vielleicht fehlt bis dato bloß die richtige Verpackung?
Mitten in diesem Spannungsfeld beweisen The Ghost Inside, dass sich starke Gefühle auch ohne viel Theatralik, ohne zuckersüße Gesangspassagen oder Moll-Akkorde im Refrain ungebremst nach außen kehren lassen. Wir schreiben das Jahr 2010. Nachdem ihr Debüt "Fury And The Fallen Ones" diesen Ansatz noch sehr roh und ungeschliffen verfolgt, verfügt das Zweitwerk über den nötigen Sound, um das Potenzial komplett auszuschöpfen. "Returners" greift die organische Wahrhaftigkeit des Hardcore auf und potenziert sie mit der Wucht moderner Metalcore-Produktionen. Vor allem aber bewahrt die Platte eine emotionale Herangehensweise als treibende Kraft. Dieser Spagat bleibt bis dato unerreicht.
"All the wrath and all the faith, I have inside, is eating me alive", durchbricht "The Greater Distance" gleich mal kompromisslos die Spirale an negativen Glaubenssätzen. Mit warmen, mächtigen Shouts entpuppt sich Jonathan Vigil als Sprachrohr aller inneren Zerrissenheit. Tiefergelegte Gitarrenwände und eine rasant anschiebende Double Base gestalten den Rahmen. Ohne viel Schnickschnack entwickelt die Produktion eine zeitlose Urgewalt. Unter dem Einfluss dieser massiven Klangkulisse blitzt dennoch eine ganz andere, eher weiche Qualität zwischen den Zeilen auf: das Faible für hoffnungsvolle Melodien über die erste Gitarre.
"Between The Lines" basiert gewissermaßen auf wehmütig angereicherten Harmonien, die nicht etwa über Klargesang, sondern ausschließlich über aufwühlende Leadfiguren ihre Wirkung entfalten. Gezielte Tempoanpassungen helfen dabei, die mitschwingende Melancholie bis zum letzten Ton auszupressen. Der Umschwung von schnell zu langsam, von hart zu verletzlich und von Verzweiflung hin zur Hoffnung lässt auch Vigil keine Ruhe. Bei allem Leid, aller Unsicherheit, steht am Ende immer der zuversichtliche Blick nach vorne. "Let's leave it behind".
Im Zuge dieses Tracks bleibt eine offen gestellte Frage besonders im Ohr. As I Lay Dying haben ihn erahnt, Parkway Drive haben ihn weiterentwickelt. The Ghost Inside zelebrieren den Breakdown als kathartischen Moment, als befreiende Gefühlsexplosion auf dem Höhepunkt ihrer Arrangements. "What do you stand for?", hallt es heute durch die Konzertvenues, wenn die Kapelle den Ausruf an ihr Publikum übergibt. Vorfreude kommt auf, denn musikalisch fährt dieser Breakdown inmitten eines tiefen Bassschlags musterhaft alle Maschinen runter. Zwischen den Schlägen der Double Base herrscht für Sekundenbruchteile Stille. Als bliebe die Zeit stehen, entlädt sich die angestaute Emotion und lässt einen von hier an, gemeinsam mit befreiten Gitarrenmelodien, nur noch gen Ausklang des Songs taumeln.
Wie kaum einer anderen Band gelingt es den Kaliforniern, solche Augenblicke mit Bedeutung zu füllen. Obwohl sie universell gestellt sein mag, brennt sich die simple Frage doch tief ein: "What Do You Stand For?". Vielleicht weil sich in ihr die einende Überzeugung, gemeinsame Werte zu vertreten, bereits als Antwort verbirgt. Die Frage zieht Grenzen und stärkt eine Solidarität innerhalb der Hardcore-Subkultur, weniger auf einer politischen, als vielmehr auf einer wertebasierten oder sozial-emotionalen Ebene. Vereint unter dieser leicht zugänglichen Identifikationsgrundlage lässt sich der folgende Abriss besonders gut aufbauen.
Ein Haus, ein Pool und jede Menge tättowierte Menschen in Feierlaune: Das beschreibt das Setting im Musikvideo zu "Unspoken". Das Gefühl dazu transportiert die "Partybombe" des Albums auch auf der Tonspur. Über allem steht die Gemeinschaft und das Gefühl, mit all den negativen Begleiterscheinungen des Lebens nicht alleine zu sein. Jeder Gang-Shout festigt das kämpferische Kollektiv in seiner Überzeugung: "I've got something here worth fighting for". Die Stimmung kocht, ein Breakdown jagt den nächsten und im Nu hat die lebensbejahende Energie alle Zweifel weggefegt.
Daran anknüpfend behält "Overlooked" den Fuß auf dem Gaspedal, legt allerdings wieder längere Schatten über die behandelten Themen. Stellvertretend für alle verlorenen Seelen bricht Vigil das Schweigen und stemmt sich gegen Ausgrenzung und Unterdrückung: "I was made for war, I was built for everyone, who lacks the means to scream." Wer viel Wut angesichts schreiender Ungerechtigkeiten in sich trägt, stößt auch in "Downbeat" schnell auf Verständnis. Mit "A hymn for the hopeless, my song to the deaf" verstehen sich die Amerikaner konstant als Mutmacher für Menschen im Schatten der heilen Welt. Inhaltlich passt diese unverschachtelte Systemkritik in all ihrer Vehemenz und Authentizität natürlich besser zu den Wurzeln des Hardcore als jede schablonenhafte Außenseiter-Hommage, wie sie im Metalcore zu Genüge auftaucht.
In Sachen Melodie markiert "Chrono" das Highlight der Platte. Gut getarnt mit gewohnt brachialen Shouts und schnelleren Parts, verbreitet die nachdenkliche Reflexion über die Schnelllebigkeit unserer Zeit eine fast schon balladeske Stimmung. Ständige Tempoverschärfungen machen den zeitraffenden Effekt spürbar, rührende Leadgitarren sorgen für Gänsehaut und feuchte Augen. Lange genug innegehalten! Kurz emotional durchgeschüttelt dürfen die Fäuste dann gerne wieder im Hier und Jetzt geballt werden.
"The Conflict" schaltet zurück in den Kampfmodus, ohne dabei wild drauf loszustürmen. Mehr als alle anderen Songs kristallisiert sich ein dramaturgischer Aufbau heraus, der neue Facetten ins Spiel bringt. Nach gemächlichem Intro und einem kurzen Abriss, verharrt das Songwriting im druckvollen Spannungsaufbau. Die Bühne gehört Sleeping Giant-Sänger Tommy Green, der seine Aggression mehr rap-artig kanalisiert. Im Wechselspiel mit Vigil nimmt die Dynamik Formen eines leidenschaftlich vorgetragenen Appells an. Erstmals überwiegt die durchdachte Struktur alle Impulsivität und bringt die innere Zerrissenheit dadurch sehr viel kontrollierter zum Ausdruck.
Weil nuanciert anders, wirkt der Eindruck noch eine Weile nach, ehe "Through the Cracks" nach dem rasenden Zwischenspiel "The Returner" endgültig wieder ungezügelt den Moshpit anrührt. Die Double Bass strotzt nur so vor Anschubenergie. Noch einmal alles rauslassen: "There are far too many things in life, I left unsaid". Seit dem ersten Gitarrenriff hat die Platte keinen Deut Power oder Vehemenz eingebüßt.
Auch der Schlussakkord "Truth and Temper" denkt gar nicht daran, das schleifen zu lassen. Der verspannten Nackenmuskulatur bleibt nichts anderes übrig, als weiter standzuhalten. Den Mittelfinger in Richtung aller inneren Dämonen gestreckt, werden negative Einflüsse im choralen Gleichklang trotzig weggeblasen: "It's not fair, I don't care, I'm not defeated". Energiegeladen bis zum letzten Atemzug poltern The Ghost Inside sich und ihren Zuhörern den Frust von der Seele.
In den rund 40 Minuten geht es zu keiner Zeit um Abwechslung oder technische Brillanz. Wiederkehrende Muster dominieren das Geschehen. So ehrlich so unverkopft und aus dem Bauch heraus, wie einem diese Platte förmlich entgegenschlägt, bleibt keine Chance, daraus Langeweile abzuleiten. Vielmehr lebt "Returners" davon, die einfachen Dinge mit viel Bumms und Herzblut aufs Parkett zu bringen. Widerstand zwecklos! Wie eine motivierende Ansprache fühlt man sich durch all die klar formulierten Wahrheiten und den Hang zur Zuversicht entgegen aller Widrigkeiten angehalten, zu kämpfen. Ganz egal, was einem das Leben vor die Füße wirft.
Ohne Kitsch oder falsche Eitelkeiten entziehen sich The Ghost Inside komplett dem Verdacht, auf der Metalcore-Welle mitreiten zu wollen. Das Album steht für sich, immun gegen alle Trends und äußeren Zwänge. In einer Zeit, in der sich das Genre gerade abnutzt, neue computergenerierte Trends aufkommen und Produktionen bis zur Unkenntlichkeit geschliffen werden, wählen die fünf Jungs aus Los Angeles den Weg zurück. Es erweist sich als gute Idee, sich daran zu erinnern, dass sich Metal und Hardcore über ehrliche Emotionen doch am besten miteinander verbinden lassen. Weg von der kommerziell getriebenen Inszenierung, kommt Metalcore also doch ohne Peinlichkeiten aus. Hand hoch, wen das kalt lässt!
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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