laut.de-Kritik
Indie-Jazz zwischen Lebenslust und Lockdown.
Review von Michael SchuhKonzerte sind im Januar 2021 ein ferner Wunschtraum und für Musiker*innen damit auch die Möglichkeit, aktiv neue, unbefangene Hörer vom eigenen Schaffen zu überzeugen. Wer sich in erster Linie über die Bühne definiert, vor allem dort eine Verbindung zu neuen Musik-Liebhabern sucht, etwa weil man sich als Band den Luxus siebenjähriger Albumpausen erlaubt, braucht derzeit einen langen Atem. Und während die Gebrüder Acher noch überlegen, ob sie auch mal ein Konzert via Livestream spielen oder lieber doch nicht, antwortet neulich ein Praktikumsbewerber im Vorstellungsgespräch auf die Frage nach The Notwist: "Kenne ich nicht."
Da könnten sensibler veranlagte Songwriter schon mal zusammen zucken, zumal es vielleicht auch nicht so unproblematisch ist, dass die ganzen Printmagazine, die die Weilheimer einst in den Himmel geschrieben haben, heute nicht mehr existieren. Die gute Nachricht: Markus und Micha Acher sind gelernte Stoiker, Veränderungen außerhalb ihres Gestaltungseinflusses, ob Printsterben oder Pandemie, verändert ihren Arbeitsrhythmus höchstens marginal. Ein bizarrer Zufall ist allerdings, dass diese globale Krise just zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem die Achers tatsächlich mal raus wollten aus ihrem Eigenbrötler-Kosmos, hinaus in die Welt, um mit anderen zu kollaborieren.
Die spannenden Ergebnisse liefert nun "Vertigo Days": Spanische oder gar japanische Lyrics sind sicher nicht das, was man gemeinhin auf einem Notwist-Album erwartet. Zudem verließ der alte Wegbegleiter Martin "Console" Gretschmann 2015 die Band, was die Aufmerksamkeit noch mehr auf Cico Beck richtet, den auch nicht mehr ganz neuen Percussionisten und Pianisten, der zwischen Acher und Acher erstmals auf Albumlänge die entstandene Kompositionslücke füllt.
Beck spielt eine wichtige Rolle auf "Vertigo Days". Im Gegensatz zu der hochfrequenten, scharfkantigen Frickelei auf "Close To The Glass" erdet er die Liebe der Band zu collagenhaftem Songwriting und verhilft den Aufnahmen mit seinem detailreichen Spiel zu einem auffallend wärmeren Klangbild. Seine Percussions rücken immer wieder ins Rampenlicht, eröffnen gar das Album mit einem Intro, das an die hektischen Jazz-Interludes des "Birdman"-Films erinnert.
Es folgt ein harter Cut zu düsteren Klavierakkorden, die gleich wieder diese Notwist-Melancholie aufkommen lassen, dieses Gefühl der Machtlosigkeit, dass sich sowieso die ganze Welt gegen einen verschworen hat und man jetzt besser das Licht abdunkelt und die Musik in stiller Isolation wirken lässt. Mit dem Unterschied, dass es uns 2021 allen so geht, weshalb Markus Acher zu Beginn von "Into Love/Stars" folgerichtig singt: "Now that you know the stars ain't fixed / the roads ain't straight / now that the sky can fall on us".
Neue Situation, neue Besetzung, neues Label, aber ohne Olaf Opal geht es freilich nicht, man muss es ja nicht gleich übertreiben mit den neuen Ufern. Gemeinsam mit dem Stammproduzent erschafft das Trio ein Soundbild, das in seiner Hinwendung an jazzige Strukturen entfernt an den 1998er-Klassiker "Shrink" erinnert. Gleichzeitig verhelfen die auch stilistisch verschiedenen Gäste dem Album zu dem von Acher gewünschten Mixtape-Charakter.
Doch die Abschottung begann schon vor der Pandemie, nur eben auf Nationenebene, und auch gegen diese gesellschaftlichen Tendenzen wollte die Band ein Zeichen setzen. Die japanische Musikerin Saya der befreundeten Band Tenniscoats berichtet in "Ship" von einer Lockdown-Auswirkung ihrer Heimat, als Schiffe Anlegeverbot erhielten, der Fusion-Jazzer Ben LaMar Gay teilt im mächtigen "Oh Sweet Fire" seine Erfahrungen mit "Black Lives Matter"-Demos aus dem fernen Chicago mit uns, sein gedehnter Sprechgesang zu elektronischem Kammerflimmern lässt dabei wohlige 13&God-Erinnerungen aufkommen.
Während die Krise unseren Alltag bestimmt und gekoppelt an die zur Gewohnheit gewordene Reizüberflutung so manchen Künstler in wahnhafte Schwurbelei treibt, bleiben Notwist in ihrer Annäherung an die Realität gewohnt ungreifbar und doch hoffnungsfroh: "But I know I'm not alone / on a planet that you call home / and my feet are stuck in stone / but my head's in the clouds". Achers berührend nackte Intonation, auch nach all den Jahren immer noch mehr Hinterhofbühne als Abbey Road-Studio, ist in keinem anderen Setting denkbar als in diesem kauzigen, filigranen, international gefeierten Krautfummelkollektiv.
"Into The Ice Age" ist ein sehr perkussives Stück, das scheinbar auch ohne Vocals super funktioniert, bis Acher dann doch auftaucht, wenigstens kurz. Einen klassischen Refrain gibt es nicht, nach drei Minuten endet der Song scheinbar, friert sozusagen ein, bevor eine Klarinette soliert und gute Miene zum bösen Spiel macht, während im Hintergrund dunkle Bläserwolken heraufziehen und nach gefühlt endloser Spannung der erlösende Beat von "Oh Sweet Fire" einsetzt.
"Vertigo Days" ist kein Album, das sich einem anschmiegt. Es surrt und rumpelt, die von ihren Liveshows bekannten Motorik-Beats dominieren, kaum ist eine bleibende Gesangsmelodie erkennbar, ist sie schon wieder verschwunden. Die Band gewährt zunächst auffallend wenig Haltepunkte im wendigen Songablauf, die Welt rast vorbei wie ein Trip im Shinkansen. Das altbekannte Soggefühl der Kompositionen, zuletzt erlebbar auf "The Devil You + Me", ergreift erst mit zunehmender Spieldauer wieder von einem Besitz. Was zunächst auf den vorab veröffentlichten EPs noch undifferenziert erschien, findet erst hier zu einem Konzept zusammen und Songs wie "Loose Ends", "Sans Soleil" oder die Coda "Into Love Again" kristallisieren sich als die großen Bandmomente heraus, die sie sind.
Den Ist-Zustand zwischen Imagination und Wirklichkeit, zwischen Lebenslust und Lockdown, fängt der Überbelichtungseffekt auf der fantastischen Cover-Fotografie von Lieko Shiga schließlich auch visuell perfekt ein. "Vertigo Days" ist ein Appell an die Nähe, an Gemeinschaft und Zusammenhalt. Mehr denn je gilt es in diesem Jahr, sich den Optimismus beizubehalten. "I like to meet you / please be fine, please be fine".
6 Kommentare mit 12 Antworten
mir zu viel Technik, zu viel Trip Hop. Bin aber eh kein Riesen Notwist Fan. Hab sie zu Alien-Zeiten mal live gesehen.
Mhm, aber wenn man sie in derln letzten Jahren mal live gesehen hat, dann konnte man erleben, dass ein Großteil der "Technik" doch irgendwie überraschend handgemacht ist.
Sehr schöne Musik, aber ich glaube, mir reicht das poppigere Neon Golden.
Hab sie Anfang der 90er mal im Dortmunder Musikzirkus/Centralpark gesehen und finde sie seitdem geil. Dieses Album habe ich auch bestellt.
Dritter Song, erster Durchlauf, bin klar angefixt. Muss man richtig hinhören, um die Tiefe zu erschließen. Sehr schöne Klänge!
Zu gut, um deutsch zu sein.
(Kann Spuren von Frotzelei enthalten)
oder Selbsthass?
Ach, der Selbsthaß. Dieser eine braune Klassiker ist mir auch schon länger nicht mehr untergekommen...
ihc dene alman kan gut kreire autopisste.
ja, man trifft ihn überall. Vor allem wenns ums alte Feindbild, das Bürgerliche geht. Und dann schaut man in die preussische Verfassung des deutschen Bundes von 1850, und da steht in artikel 10: der Bürgerliche Tod findet nicht statt. Das ist der Eingang zum Kaninchenbau, viel Spaß bei der Recherche.
https://www.jura.uni-wuerzburg.de/lehrstue…
Ich verstehe nicht. Was willst Du uns mit diesem 10. Artikel mitteilen?
Lieber Ragism, darf ich dich als Rassist beschimpfen?
Darfst Du. Weil Deutsche keine Rasse sind.
An dieser Stelle möchte ich gerne energisch an Age of Empires II verweisen.
oder heißt es "auf"?
dass es wichtigeres gibt, als das Rassen Meme in dem sich viele immer halten lassen.
Da kann was dran sein. Mit dem Wort "Rasse" hab ich aber nix zu schaffen. Und sich als in der BRD aufgewachsener Weißer über Lauchkartoffeln zu beömmeln, ist nun auch keine vernichtende "Religions-" oder Kulturkritik aus der fundamentlosen Ferne, die irgendwelche grausamen Konsequenzen nach sich zöge.
Diese Jungs werden einfach nicht alt.