laut.de-Kritik
Der größte Trip seit "Amnesiac".
Review von Dennis RiegerSphärische Synthesizerklänge umhüllen uns, ehe eine hochgeschätzte Falsettstimme gewohnt surreale Lyrics säuselt: "In a beautiful world / We are melting / And go running / Nailed down / Somewhere lurking / Form a line / Falling over / Zip tied". Es ist die Stimme Thom Yorkes, die unnötigerweise in äußerst luftige, geradezu chipmunkige Höhen gepitcht wurde. Eröffnet "Foreign Spies" ein neues Soloalbum des Workaholics? Der Einstieg klingt jedenfalls verdächtig nach "Tomorrow's Modern Boxes". Oder wurden Atoms For Peace wiederbelebt? Begrüßen uns gar die Radioköpfe im Synthiehimmel? Nein, zumindest nicht vollständig. Keine neun Monate nach "Wall Of Eyes" schenken The Smile bereits dem Nachfolger "Cutouts" das Leben. All denjenigen, die glauben, es könne sich bei diesem Album angesichts der ungewöhnlichen Veröffentlichungspolitik nur um eine bessere B-Sides-Sammlung handeln, setzten Yorke, Jonny Greenwood und Tom Skinner nur ein verschmitztes, trauriges Lächeln entgegen.
Streicher des London Contemporary Orchestra eröffnen "Instant Psalm", ehe eine Akustikgitarre und Drums einsetzen. Dank des schönen Streicherarrangements und der herausragenden Albumproduktion, die die Räumlichkeit von "A Moon Shaped Pool" mit der Wucht von "Anima" und"A Light For Attracting Attention" verbindet, bezirzt auch ein unspektakulärer Track wie dieser. Das Schrauben an der yorkeschen Tonhöhe zu Beginn von "Foreign Spies" bleibt die einzige unverständliche Entscheidung Sam Petts-Davies', dem das Kunststück gelingt, die letzten Nigel-Godrich-Produktionen in den Schatten zu stellen. So gut kann die Standard-Version eines Albums klingen – ganz ohne 7.1-Surround-Abmischung eines Deluxe-Edition-Boxsets.
"Zero Sum" zieht das Tempo drastisch an: Greenwood tobt sich an seiner Gitarre (und am Pedalboard) aus, Skinner treibt an, sein filigranes Drumming mischt Petts-Davies dankenswerterweise in den Vordergrund. Yorkes Vocals fliegen über das so großartige wie ungewöhnliche musikalische Geschehen hinweg, das nach eineinhalb Minuten um Bläser bereichert wird. Ein krummtaktiger Uptempo-Song, der von Bläsern bereichert wird? Ja, tatsächlich! Mit Ausnahme der jungen Wilden von Squid setzt derzeit niemand Blasinstrumente in der (im allerweitesten Sinne) Welt des Rock so gekonnt ein. Selten klangen Yorke und Greenwood so groovy.
Was folgt nach einem Ambientstück, einer Akustikgitarrendrumsession mit Streichern und einem irren Uptempotrack mit Bläsern? Ein psychedelischer Ausflug in den Orient, ist doch logisch! Und nein, nicht die bloße Anzahl an Genres beeindruckt, sondern die Eleganz, mit der auf "Cutouts" unterschiedlichste Instrumente und Stile zu einem entgegen aller Wahrscheinlichkeit homogenen Ganzen verwoben werden.
Tom Skinner gibt den Takt vor, ehe Thom Yorke am Bass einsetzt und Jonny Greenwood mit einer orientalisch anmutenden Akkordfolge das Setting festlegt. Tief in die Wüste geht es, in der sich Yorke in eine Art areligiösen Derwisch verwandelt: "You can change your mind / Let your colours fly!" Mithilfe eines Saxophons und eines Chors spielt sich die Band in einen Rausch, klingt wie Pink Floyd in den besten Momenten der Prä-"Meddle"-Phase, ohne dabei in Kiffermusik-Klischees zu verfallen.
"Eyes & Mouth" überrascht mit Dur-Akkorden am Piano und dem aus seiner musikalischen Sozialisation außerhalb der Rockmusik keinen Hehl machenden Drummer Skinner. Ein potentieller Hit? Nicht doch! Wie ausnahmslos alle musikalischen Kleinode auf "Cutouts" entzieht sich auch der ebenso großartige wie ungewohnt serotoninhaltige Jazzrock-Track des Albums dem konventionellen Strophe-Refrain-Strophe-Schema.
Als erste, nun ja, Singleauskopplung ließ sich der minimalistische Electrotrack "Don't Get Me Started" mit seinem drolligen Synthesizersound und den Geschwindigkeitskontrasten als Mittelfinger-Statement gegen den Teil der Musikindustrie werten, der sich nur noch auf der Suche nach dem nächsten Tik-Tok-Beschallungs-Hit befindet. Im Albumkontext erstrahlt der zuvor so unscheinbare Track in neuem Glanz, lässt einen Luft holen, ehe The Smile einem selbige mit "Tiptoe" wieder nehmen. Umrahmt von Fieldrecording, Violinen und Violen beweist Yorke an einem verstimmten Klavier, dass ihm auch im Jahr 2024 hinsichtlich auf die Tränendrüse drückender, im Falsett gesungener Balladen niemand das (reichlich fließende) Wasser reichen kann.
"The Slip" führt das albumgewordene Festival der Kontraste fort mit finsteren Synthies, wuchtiger Percussion, wahlweise dadaistischem oder albernem Text ("A black hole at the centre of the galaxy / Being pulled, being pulled, being pulled down") und Greenwoods E-Gitarre, die die Düstersynthies auszulachen scheint. Hätten andere (ehemalige) Artrocker, die einst über Schwarze Löcher sinnierten, aus den hier vorliegenden musikalischen Zutaten einen Song gebastelt, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit reichlich Fremdschampotential beinhaltendes Liedgut entstanden. Yorke, Greenwood und Skinner aber erschaffen einmal mehr aus vermeintlich nicht harmonierenden Elementen einen stimmigen Song. Auch hier befindet sich everything in its right place.
Den Electronica-Psychedelic-Rock-Oriental-Jazz-Kraut-Parforceritt der Extraklasse beschließt "Bodies Laughing", zunächst lediglich mit Akustikgitarre und Yorkes weltentrückt-traurigem Gesang. Abschließend locken Drums, Synthies und eine Bassstimme zum nächtlichen Melancho-Walzer auf eine verlassene Tanzfläche. Die verträumte Halbballade in der Tradition von "The Present Tense" übertrifft den "A Moon Shaped Pool"-Track gar – nicht zuletzt dank der noch stilvolleren Produktion.
Nur die größten Optimisten hatten erwartet, dass The Smile weniger als ein Dreivierteljahr nach "Wall Of Eyes" einen noch besseren Nachfolger veröffentlichen würden. Doch die Optimisten behielten Recht. Mit "Cutouts" legt die lange als Pandemie-Nebenprojekt belächelte Band nicht nur eine Liebeserklärung an das Albumformat vor, sondern auch den größten musikalischen Trip seit "Amnesiac".
Ironischerweise emanzipieren sich Thom Yorke und Jonny Greenwood von ihrer übergroßen Band ausgerechnet mit einer LP, die in ihrer konsequenten Umschiffung konventioneller Songstrukturen und stilistischen Vielfalt dem doppelten Donnerschlag, mit dem Radiohead einst das neue musikalische Jahrtausend einläuteten, stärker ähnelt als projektübergreifend jedes nachfolgende Album der beiden Ausnahmekünstler. Die zuvor so unerreichbar erscheinenden Berggipfel auf dem "Kid A"-Cover waren seit mehr als 23 Jahren nicht mehr so nah.
4 Kommentare mit einer Antwort
Eyes and Mouth & Bodies Laughing wurden damals in Berlin gespielt.. Hmm, bin jetzt echt positiv von den Studioversionen überrascht. Cooles Album was noch bissi wachsen muss, aber zumindest gibt's keinen Skip-Song, imho. xD
die ersten höreindrücke waren schhon ziemlich noice, aber ich renne noch nicht wild ejakulierend durch berlin. mal sehen
Schöne Atmo, das was Kritiker so mögen, Kopfhörermusik aber eigentlich auch gut gemachte langweile.
https://youtu.be/o9i9J6IOEq0?si=UUoQK2GCD0…
love it