laut.de-Kritik

Diese Platte braucht, was heutzutage kostbar ist: Zeit.

Review von

Nach Tourneen, Klagen, Ungewissheiten, Morddrohungen und Leak-Heists auf Reddit erscheint nun mit "Fear Inoculum" das wohl meist erwartete Album 2019. Dass Tool dreizehn lange Jahre benötigten, um "10,000 Days" einen Nachfolger zu bescheren, war nicht nur den vielen Schwierigkeiten, sondern auch dem Perfektionismus der Band aus Los Angeles geschuldet. So ging den Aufnahmen, die im März 2018 begannen, ein rund fünfjähriger Prozess des "kontinuierlichen Jammens, Schichtens und Verfeinerns" voraus, sagte Drummer Danny Carey kürzlich dem Metal-Magazin Kerrang. Am Ende bleiben 7 Tracks und 85 Minuten Spielzeit.

"Fear Inoculum" dreht sich um die Zahl 7 und erweist sich als das bis dato komplexeste Album von Tool. Es benötigt einige Durchgänge, um den vielen atemberaubenden Takt- und Rhythmus-Wechseln folgen zu können. Die ziehen sich vor allem durch die bereits live gespielten Songs "Descending" und "Invincible". Die erstgenannte Nummer, die mit Meeresrauschen beginnt und abschließt, geht nach einem langen, ruhigen Spannungsaufbau, der sich in einem kraftvollen, von Adam Jones' Gitarre dominierten Mittelteil entlädt, in der letzten Hälfte in eine atmosphärische Passage über, die sich stark an "Reflection" orientiert und in der größtenteils Elektronik im Vordergrund steht.

Die nahm noch nie so viel Raum ein wie auf dieser Platte. Das hört man sehr deutlich in "Pneuma", das in der Mitte verspielte Synthesizer durchziehen, die zwar 70er-Jahre-Flair versprühen, aber mitunter etwas kühl und steril anmuten, was sich auch auf den Klang des wieder einmal von Joe Barresi produzierten Werkes übertragen lässt.

Jedenfalls greifen die Kalifornier in "Pneuma" ebenso auf frühere Versatzstücke zurück. So halten immer wiederkehrende Gitarren-Motive in Anlehnung an "Schism" das Stück zusammen, was der Zugänglichkeit nicht schadet. Die begleitet Justin Chancellor mit seinem prägnanten, düsteren Bass-Spiel.

Gerade die Zehn- bis Fünfzehn-Minüter, die Tool vor Release nicht live präsentierten oder vorab veröffentlichten, bieten ein paar musikalische Anknüpfungspunkte, die helfen, sich mit "Fear Inoculum" besser zurechtzufinden, obwohl es ihnen an abenteuerlichen Breaks ebenfalls nicht mangelt. Jedenfalls durchkreuzen "Culling Voices" und "7empest" immer wieder treibende Heavy-Passagen, nur um wenig später wieder mehr Ruhe zu verströmen.

Generell zeichnet "Fear Inoculum" ein insgesamt recht entschleunigter Charakter aus, ohne dass man die Intensität früherer Platten vermisst. Tool lassen sich sehr viel Zeit, ihre Songs aufzubauen, geben ihnen aber gerade deswegen mehr Luft zum Atmen als bisher. Auch Maynard James Keenans Gesang fällt viel verhaltener, teilweise melancholischer aus als sonst und fungiert als ein weiteres Instrument. Das macht sich besonders in "Culling Voices" bemerkbar, das in der ersten Hälfte recht ambient und sakral anmutet. Nach einem dynamischen Bass-Einsatz übernehmen dann schließlich schwere Gitarren endgültig das Ruder.

Ganz anders das vom Aufbau an "Pushit" gemahnende "7empest", das Keenan mit seinen wütenden Ausbrüchen bereichert. Es ist das epische Finale eines Albums, das sich nur schwer fassen lässt, jedoch vieles vereint, für was die Band steht. Graham Hartmann von der Loudwire schrieb vor wenigen Wochen in seiner Review sogar, der Track sei "das Beste, was Adam Jones jemals aufgenommen hat".

So weit muss man nicht gehen, doch zieht Jones zwischen melodisch alternativen und metallisch schweren Riffs und einer Menge Gefrickel sämtliche Register seines Könnens. In der Mitte ertönt sogar ein rund vierminütiges Solo von ihm. Das leitet in einen ungestümen Gesangs-Part Marke "Hush" über. Danach treiben die Kalifornier das Wechselspiel zwischen instrumentaler Wucht und proggiger Experimentierfreude noch einmal grandios auf die Spitze.

Da verkommt das von Danny Carey bereits live aufgeführte Synth-Instrumental "Chocolate Chip Trip", das sich davor befindet, zum Beiwerk, obwohl er sogar ein langes Drum-Solo beisteuert. Damit zollt er Jazz-Musiker Billy Cobham, der einst mit Miles Davis zusammenarbeite, seinen Tribut.

Es handele sich um das "verrückteste Sound-Experiment", das Tool "jemals aufgenommen haben", so Hartmann in seiner Rezension, aber im Grunde hat man einige Interludes auf "Aenima" oder "Faaip De Oiad" auf "Lateralus" weitaus merkwürdiger in Erinnerung. Eine Verschnaufpause von den langen Tracks, wie es die Vorstellung des mittlerweile auf die sechzig zugehenden Schlagzeugers war, bildet "Chocolate Chip Trip" trotzdem nicht, da es den Album-Fluss letztendlich mit seinen anstrengenden Elektronik-Effekten stört.

Dafür wirkt Carey lebendiger denn je. Zum einen ist er es, der mit seinem Spiel die Songs antreibt, zum anderen drückt er der Scheibe mit seiner Snare-, Percussion- und Tabla-Arbeit einen völlig eigenen Sound-Stempel auf. Dadurch kommt so gut wie durchgängig wieder eine spirituell betonte Mysteriösität ins Spiel, wie man sie von "Lateralus" kennt.

Die emotionale Vielschichtigkeit jener 2001er Platte weist "Fear Inoculum" allerdings nicht auf. Es zählt vordergründig das große Ganze. So hatte Carey eine "Aufnahme" machen wollen, die sich wie ein "gigantischer Song" anfühle, verriet er dem Kerrang. Diesem Ziel kommen Tool auf jeden Fall sehr nahe, speziell was die dichte Atmosphäre und den homogenen, aber etwas gewöhnungsbedürftigen Klang anbelangt.

Also Kopfhörer auf und eintauchen, selbst wenn man wahrscheinlich nicht alles erfasst und begreift, was auf der Platte geschieht. Sie braucht vor allem das, was im Streaming-Zeitalter aktuell immer mehr verloren geht: Zeit. Sehr viel Zeit.

Trackliste

  1. 1. Fear Inoculum
  2. 2. Pneuma
  3. 3. Invincible
  4. 4. Descending
  5. 5. Culling Voices
  6. 6. Chocolate Chip Trip
  7. 7. 7empest

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