laut.de-Kritik
Vom Lückenfüller zur Ikone eines neuen politischen Bewusstseins.
Review von Sven KabelitzAm 11. Juni 1988 erweist sich Stevie Wonder als wahre Drama Queen. Über Wochen hinweg war er für die Veranstalter des "70th Birthday Tribute Concert" für den damals noch inhaftierten Nelson Mandela nicht zu erreichen. Als ihm langsam bewusst wurde, welche Rolle der Abend weltweit spielt, fragte er drei Tage vor dem Event kurzfristig nach, ob sich nicht doch noch ein Platz für ihn finden ließe. Kurz vor seinem Auftritt wird ihm allerdings die Festplatte mit der Programmierung für sein Synclavier geklaut. Schon auf dem Weg zur Bühne, dreht Wonder wieder um, verlässt weinend das Stadion, und im Programm klafft eine 25-minütige Lücke.
Tracy Chapman, die die Menschen bereits am Mittag mit ihrer Anti-Apartheid-Hymne "Talkin' 'Bout A Revolution" in ihren Bann gezogen hatte, springt mit ihren Songs "Fast Car" und "Across The Lines" spontan ein. "In jenem Moment musste ich auf die Bühne rennen und zog mein Gitarrenkabel hinter mir her. Wenn ich mir die Aufnahme heute anschaue, sehe ich, wie unvorbereitet ich war. Der Vorteil: Für Lampenfieber hatte ich schlicht keine Zeit."
Ihr Debüt, das sich in den zwei Monaten zuvor ordentliche 250.000 Mal verkauft hatte, geht allein in den folgenden zwei Wochen eine Million Mal über die Ladentische. Bis heute kamen weitere neunzehn Millionen abgesetzte Einheiten hinzu.
In der Amtszeit Ronald Reagans stoßen ihre in Folk gebetteten Texte auf offene Ohren. Chapman singt von Armut, Unrecht, Rassenhass, Existenzangst und den Wirrungen der Liebe und schwingt sich damit zur Ikone eines neuen politischen Bewusstseins empor. Emotional und authentisch trägt sie ihre Zeilen mit ihrer unverkennbaren Stimme vor.
Ein Jahr zuvor beeindruckte die noch unbekannte Tracy Chapman so auch Brian Koppelmann, der wie sie die Tufts University in Medford besucht hatte. Nachdem er sie bei einem Café-Besuch live erlebte, wollte er sie umgehend seinem Vater Charles vorstellen, dem Produzenten und Mitbegründer von SBK Entertainment World. "Er meinte, sein Vater sei ein wichtiger Manager im Musikbusiness und könne mir helfen, einen Plattenvertrag zu bekommen. Das wollte ich aber gar nicht. Ich wollte lieber weiter studieren, meinen Master in Anthropologie machen und mir dann einen Job suchen", erzählte die Singer/Songwriterin 2017 in einem Interview mit Spiegel Online.
Sowohl Chapman als auch der junge Koppelmann blieben hartnäckig. Er setzte sich bei ihren Shows in die erste Reihe, und sie wollte für ihn kein Demo aufnehmen. Schließlich fand er jedoch eine Aufnahme von "Talkin' 'Bout A Revolution" bei der Tufts Radio Station. Kurz stibitzt, ab zu Paps, und etwas später lag ein unterschriftsreifer Elektra Records-Vertrag vor Tracy.
Nach den letzten Jahren voller hochtoupierter Frisuren, Schulterpolster, Yamaha DX7 und Gated Reverb lechzte Charles Koppelmann nach einem Gegenentwurf. Die Vorstellung, Lieder so schlicht wie irgendwie möglich zu gestalten, verbanden ihn, Chapman und Produzent David Kershenbaum (Joe Jackson, Supertramp, Duran Duran). "In der Industrie bekamen sie das Gefühl, die Leute seien langsam von allem gelangweilt, das gerade rauskommt, und könnten vielleicht wieder gewillt sein, auf Texte zu achten und jemandem zuzuhören, der etwas zu sagen hat", erinnert sich Kershenbaum.
Für acht Wochen fand sich die aus der Arbeiterstadt Cleveland kommende Tracy im für sie so fremden Hollywood im Powertrax Studio ein. Letztlich erinnert nur manche klebrige Keyboardschicht oder Snare-Hall an das Jahrzehnt, in dem "Tracy Chapman" entstand. Indem sich das Album so weit wie möglich von den in jener Zeit gängigen Aufnahmen abgrenzte, erschuf Chapman einen zeitlosen Klassiker.
Stets stehen sie und ihre Texte im Vordergrund, die sich im Booklet in fünf verschiedenen Sprachen wiederfinden: auf Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Das perfekte Umfeld für ihren von Bob Dylan, Joan Baez, Joni Mitchell, Simon & Garfunkel und Joan Armatrading inspirierten Folk.
Welche Auswirkungen das zurückhaltende Arrangement und Chapmans Darbietung haben, zeigt die gefühlvolle Ballade "Baby Can I Hold You". Ein sentimentaler Song darüber, wie schwer es uns oft fällt, uns zu entschuldigen, dem anderen unsere Gefühle zu gestehen, schlichtweg die richtigen Worte zu finden. Nah am Kitsch, doch in dieser Version einfach schön und ergreifend. Tracys verletzliche Stimme verleiht dem Stück noch mehr Schmerz und Tiefe, als es eigentlich besitzt. Wie schnell das auch ganz anders wirken kann, offenbart sich im 1999 erschienen und von Bläsern und Streichern überfrachteten Boyzone-Cover. In deren Händen verwandelt sich die ursprüngliche Empfindsamkeit in schmalzigen Ramsch.
Dreißig Jahre später haben die Lyrics erschreckenderweise nur wenig von ihrer Aktualität verloren, zum Teil sogar hinzugewonnen. Das bereits 1985 geschriebene "Across The Lines" handelt von Rassentrennung und lässt sich ohne weiteres auf die 2014er Race Riots in Ferguson und Baltimore übertragen. "Choose sides / Run for your life / Tonight the riots begin / On the back streets of America / They kill the dream of America." Gleichzeitig webt Chapman das Thema victim blaming in ihren Text ein. "Little black girl gets assaulted / Don't no one know her name / Lots of people hurt and angry / She's the one to blame."
"Mountains O' Things" erhält seine unverkennbare Farbe durch Paulinho Da Costas Percussions. Dazu singt Tracys vom kalten Konsumismus, von der ewigen Geschichte von Arm und Reich und der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen beiden. "The life I've always wanted / I guess I'll never have / I'll be working for somebody else / Until I'm in my grave / I'll be dreaming of a live of ease / And mountains / Oh mountains o' things." Nach der Hälfte dreht sie geschickt die Perspektive: "Mostly I feel lonely / Good good people are / Good people are only / My stepping stones / It's gonna take all my mountains o' things / To surround me / Keep all my enemies away / Keep my sadness and loneliness at bay." Klingt beides nicht sonderlich erstrebenswert.
"Fast Car" mag auf den ersten Blick von Liebe handeln, doch hauptsächlich steht die Sehnsucht nach einem besseren Leben, nach einem Neustart und nach dem Entkommen aus dem grauen Alltag im Mittelpunkt. Ein Ausweg, weg vom unterbezahlten Job und dem die Protagonistin umgebenden Alkoholismus. Doch egal, wohin die Reise auch führt: Nichts ändert sich. Nahezu blind klammert sie sich an den kurzen, vollkommenen Moment der Hoffnung:
"So remember we were driving, driving in your car / Speed so fast I felt like I was drunk / City lights lay out before us / And your arm felt nice wrapped 'round my shoulder / I had a feeling that I belonged / I had a feeling I could be someone, be someone, be someone." Chapman gelingen Texttiefe und Charakterzeichnung, wie man sie sonst von Bruce Springsteen kennt. Obwohl der Refrain erst nach genau zwei Minuten einsetzt, erhielt "Fast Car" massives Airplay und wurde neben "Give Me One Reason" vom "New Beginning"-Album zu ihrem größten Erfolg.
Bereits mit dem zweiten Longplayer "Crossroads" schrumpfte die Anfangshysterie, die Tracy Chapmans Debüt begleitete, wieder auf Normalmaß. Eine Gegebenheit, die der Sängerin entgegen kommt, die mit dem großen Erfolg eher haderte und sich vor einem kleineren Publikum weitaus wohler fühlt: "Aus Ruhm mache ich mir nichts. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt – außer wenn ich auf der Bühne meine Lieder singe."
Acht Studiowerke umfasst ihre Diskografie. Ihr letztes Werk "Our Bright Future" erschien 2008, die letzte Tour absolvierte sie 2009. Doch dieser eine Auftritt im Sommer 1988 hallt nach, wird zur Prophezeiung. "'Cause finally the tables are starting to turn / Talkin' 'bout a revolution", singt sie im ebenso leisen wie unfassbar lauten "Talkin' 'Bout A Revolution". Am 11. Februar 1990 kommt Mandela frei, 1994 wird er Südafrikas erster schwarzer Präsident.
Stevie Wonder kehrt am späten Abend zum "Nelson Mandela 70th Birthday Tribute" zurück und singt "I Just Called To Say I Love You".
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 5 Antworten
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Wunderbare Rezension, schön verwobene Anekdoten zur Entstehung und am Ende bei mir das absolute Verlangen, die Platte heute abend aufzulegen .
Mittlerweile reingehört und muss sagen, ist mittlerweile nicht so gut gealtert wie erwartet. Definitiv schöne Songs und Melodien (Fast car, across the line, baby can I hold you), aber er klingt obwohl es für die 80er sicher zurückhaltend produziert wurde doch irgendwie "dated".
Was die Rezi an sich natürlich nicht schlechter macht .
Heute nacht wird in Kabelitz-Bettwäsche geschlafen...
Und? Wie war die Nacht? Gut geschlafen?
Sehr gut. Friedlich. Nur in Sachen Erotik war es ein bisschen mau.
Zwei Hits ("Fast Car", "Talkin' Bout a Revolution") für die Ewigkeit, aber mit dem Rest werde ich nicht wirklich warm. Klingt mir zu sehr nach Achtziger, obwohl da sicherlich gute Stücke dabei sind. Hat für mich aber nicht die Zeitlosigkeit, die etwa Joni Mitchells Musik besitzt. Ich vermisse die Authentizität, die wahrscheinlich unter dem Produktionspomp von David Kershenbaum vergraben liegt.
Die Meisten Lieder sind eher so meh aus meiner Sicht, For My Lover ist noch ein Hit für mich.
Achtziger-Album: Zwei Hits zum Vermarkten, der Rest ist Füllmaterial. Bei diesem Album ist die Staffage aber okay.
Mein Problem mit "Tracy Chapman" ist auch, dass die Songs merkwürdig altbekannt klingen. Bei "For My Lover" muss ich an den britischen Folk-Rock denken, Richard Thompson oder so.
Ja eine schöne Kinderwelt, Millionäre, die mit ihrer Linken Position koketieren und eine Gemeinschaft schaffen, die alles schafft- nur nichts verändert. Und darum geht es.
Damals im TV gesehen und seit dem alle Albem gekauft, aber warscheinlich auch auf Grund der damaliegen Umstände mein Favorit von ihr.
Toller Text dazu, ihren Mut damals hätten nicht alle gehabt.
Etwas Nostalgie ist natürlich auch dabei.
5 Sterne sind voll verdient