laut.de-Kritik
Eine Lektion in Bescheidenheit und Dringlichkeit.
Review von Rinko HeidrichGlastonbury 1999, 26. Juni, an einem bis dahin trockenen Festivaltag: Ein Haufen bleicher Jungs steht auf der Bühne, und genau zum siebten Song "Why Does It Always Rain On Me?" kommen auch höhere Mächte nicht mehr an der Großartigkeit des Songs vorbei. Ein Wolkenbruch fährt auf die begeisternde Menge nieder, und noch heute gilt der Live-Auftritt von Travis als einer der besten in der wirklich namhaften Historie des vielleicht bekanntesten Festivals der Welt.
Am nächsten Tag sind die Zeitungen voll von diesem wahrhaft wunderlichen Ereignis, die Single erobert die Charts. Nicht belegt ist, wo Chris Martin den Auftritt sah, aber folgenden Satz ließ er verlauten: "Travis waren ein massiver Einfluss auf unser erstes Album. Ohne sie hätte es Coldplay nicht gegeben."
Der Weg zu diesem alles erlösenden Moment und dem Start der Welt-Karriere von Travis war alles andere als erfolgsversprechend. Das Album "The Man Who" stieg zwar auf Platz 5 der UK-Charts ein, verschwand dann aber erst einmal aus dem Fokus der britischen Konsumenten und traf auch nicht den Geschmack der Musikpresse. Die befand sich gerade in einem ordentlichen Kater nach den großen Britpop-Jahren, die 1999 endgültig vorbei schienen.
Blur verabschiedeten sich aus der ihnen mittlerweile verhassten Szene mit einem zunehmend amerikanischen Indie-Rock-Sound, Oasis scheiterten krachend im "Be Here Now"-Koksrausch, und am Horizont braute sich schon bedrohlich der neue Nu Metal-Sound aus Amerika zusammen. Die Bands der Stunde hießen Korn oder Limp Bizkit. Travis, die unscheinbaren Jungs aus Glasgow, wirkten wie Aliens in der lauten Blase.
Als Sänger Fran Healy erste Hörproben der Plattenfirma vorspielte, war diese alles andere als begeistert. Im Gegensatz zum jugendlichen Vorgänger "Good Feeling" mit seinem launigen Stampfer "Tied To The 90s" schätzten die Labelsbosse das neue Material wie den grüblerischen Akustik-Song "The Fear" und das verletzliche "Writing To Reach You" als viel zu depressiv ein. Nigel Godrich schien den Vibe von Radiohead, mit denen er vorher zusammen an OK Computer gearbeitet hatte, mit in die Highlands gebracht zu haben. Schon dieses nihilistische Album fremdelte mit seinen Artrock-Anleihen an dem glückseligen Britpop-Sound, mit dem intimen "The Man Who" erfolgte der nächste Stilbruch.
Das Album überhöhte sich nicht selber, sondern ist auch eine Lektion in Bescheidenheit. Als ob sich Travis für das großkotzige Verhalten ihrer Zeitgenossen entschuldigen wollte: Seht her, wir können auch einfach einen prägnanten Folk-Song wie "Luv" aufnehmen und mit einer Mundharmonika mehr Emotionen auslösen als all die anderen Poser in der Rockwelt. Rock-Soli? Nein. Welche Modemarken trugen sie? Normale Klamotten, mit denen sie unter Studenten nicht aufgefallen wären. Der große Plan zur Welteroberung? Auch nicht. Es ging bei Travis um alles, aber eben nicht um das Ego der Band. Auch Nigel Godrich, der sich bei Radiohead noch mit spacigen Sci-Fi -Sound austobte, hielt sich zurück.
"As You Are" erinnert zwar an den weltanklagenden Gesangs-Stil von Thom Yorke, nimmt sich aber genau ab dem Moment zurück, wo es zu sehr in selbstverliebten Pathos abgleiten könnte. In einem Interview fasste Fran noch Jahre später seine Abneigung gegenüber solchen Eskapimus zusammen: "Ich sehe nicht den Sinn, Alben zu machen, die ausgedehnte Jams sind, über die er dann drüber murmelt. Es soll sich endlich jemand ein Herz fassen und ihm sagen: Bitte schreib einen verdammten Song!" Oder wie es Bassist Dougie Payne ausdrückte: "Es ist doch viel schwerer, einen Song simpel zu halten, als zu viele Elementen auszuprobieren und alles zu zerstören. "
Fran Healy flüchtete sich in keine aufgebauschten Kunst-Welten oder Sound-Collagen. Seine Lyrics wandten sich direkt an den Hörer und waren wie in "Driftwood" Beobachtungen über Menschen, die sich selber wenig zutrauen. Diese ermuntert er, trotz Rückschlägen nicht den Mut zu verlieren und an das zu glauben, was man liebt. Nora, der er die Zeilen "So I'm sorry that you turned to driftwood / But you've been drifting for a long long time " widmete und mit der er auch die Fotos für das Artwork aufnahm, dankte ihm diesen aufbauenden Ratschlag: Bis heute ist das Paar glücklich verheiratet.
"We'll never know unless we grow / There's so much world outside the door" heißt es in dem großen Highlight "Turn". Ein majestätischer Song, der doch noch einmal das schwelgerische Element des Britpop aufnimmt, sich anfangs noch zaghaft heraus wagt und am Ende im Geigenhimmel über sich hinaus wächst. Die sehnsüchtige Stimme von Fran jauchzt es noch einmal hinaus, bis es jeder verinnerlicht und es wirklich wahr werden könnte: "And if we turn, turn, turn, turn / then we might learn / learn to turn".
"The Man Who" war Balsam auf die Seele einer verunsicherten Menschheit, die mit großer Sorge auf die Jahrtausendwende schaute und bis dahin gar nicht wusste, wie sehr sie den aufbauenden Trost benötigte. Am Ende des Jahres stand allen Unkenrufen und anfänglichen Hindernissen zum trotz das Album mit 3,5 Millionen verkauften Alben an der Spitze der Charts. Zehn authentisch und hochemotional vorgetragene Songs setzten die Gesetze in der konstruierten Plastik-Welt der Plattenkonzerne für einen Moment außer Kraft.
Vor wenigen Wochen erschien zum zwanzigjährigen Jubiläum von "The Man Who" eine Anniversary-Box, die von der Band ausgewähltes Bonus-Material. beinhaltet. Auf der Bonus-CD befinden sich 19 Tracks, auf der Vinyl 10 Songs, außerdem liegt noch ein großformatiges Buch mit schwarz-weißen Fotos aus der damaligen Zeit bei. Besonders lustig ist die wunderbar groteske Begegnung mit "Borat"-Comedian Sasha Baron Cohen, in dessen "Ali G."-Show Fran Healy damals allein auftrat, als "Travis" angesprochen wurde und umringt von Tänzerinnen "Why Does It Always Rain On Me" performte. Der legendäre Glastonbury-Auftritt von 1999 liegt der Box nicht bei und ist seperat als Live-Album erhältlich.
Bereits länger bekannt, aber trotzdem interessant ist eine Cover-Version von "Baby One More Time". Der quietschige 90er-Charts-Hit klingt in der Version wunderbar schaurig schief, zwischendurch muss die Band selber über den Blödsinn lachen. Ernsthafter ist das andere Cover: Das tieftraurige "The Urge On Going "von Joni Mitchell ist ein großer Moment, der "The Man Who" grandios abgeschlossen hätte und dem Original noch mehr Tiefe (nicht nur in der Tonlage) verleiht. Das ungewohnt wütende "Blue Flashing Light" bleibt hingegen der Hidden Track auf der normalen Album-Version.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare mit 8 Antworten
"Turn" ist immer noch wunderschön.
Das allein wiegt jedoch keinesfalls auf, dass Travis durch konsequente Bandauflösung im Anfangsstadium auch Coldplay hätten verhindern können!
Coldplay ist die Band, die unsere Spezies verdient.
Da es ohne Travis Coldplay so nie gegeben hätte, sollte man die Jungs aus Schottland mit Preisen und Ehrungen überhäufen! Aber die Musik von Travis steht für sich, ich will die natürlich nicht nur auf ihre Vorreiterrolle in dem Bereich reduzieren.
Und nein, die doofe Menschheit hat die Musik von Coldplay natürlich nicht verdient, bis auf das letzte Album vielleicht, das kann nicht allzu viel.
So beim Überfliegen: Joni Mitchell hat ein "J" zu viel.
Ansonsten: Aufgrund anhaltend quälender Verbrechen an der Musikgeschichte in Form von "Sing" sind Travis generell für jede Meilensteinehrung auszuschließen... aber ich befürchtete ja bereits seit längerem, dass sich in euren Reihen mindestens eine Person finden lässt, die diesen Formatradiorockern auch heute noch die Zehen lutscht.
Haha...jupp, Sing war echt nervig, in einer Reihe mit Teenage Dirt Bag oder Lemon Tree
Nein, Lemon Tree hat den Vogel abgeschossen. SIng war dagegen 1 Liga drüber.
Ich habe eine große Abneigung gegen Füße. Bäh.
Dann darfst du meinen Beitrag gerne als konfrontierenden Anteil einer nicht systematischen Desensibilisierung betrachten.
Völlig verdienter Meilenstein.
Gute Rezi und verdienter Meilenstein. Neben Radiohead und Coldplay sollten The Verve hier nicht unerwähnt bleiben, die ebenfalls den Britpop-Hype in der 2. Hälfte der 90er mit melancholischen Songs vertrieben.
Ich war mal auf einem Konzert von The National im Huxleys. Das muss so um 2010 rum gewesen sein. Im Huxleys gibts (oder gabs damals) so eine Raucherterasse und da wir gute Plätze ergattert hatten, gingen wir in Grüppchen rauchen. Zuerst ich und einer meiner Freunde. Draussen stehend und rauchend, fiel mir zu meiner rechten eine Person auf, die mir irgendwie bekannt vorkam. Ich sag zu meinem Kumpel: "Hey guck mal! Der Sänger von Travis!", was mein Kumpel bejahte und wir fanden das irgendwie witzig. Fran Healey unterhielt sich mit einer weiteren Person, die aber mit dem Rücken zu uns stand... Jedenfalls gingen wir wieder rein und erzählten dem Rest unserer Leute, dass der Sänger von Travis draussen steht und raucht. Dann ging die nächste Gruppe zum Rauchen und kamen wenig später zurück und zeigten uns ein gerade eben gemachtes Foto. Darauf 3 Personen: Links Fran Healey, in der Mitte mein Kumpel Denny, der wie ein kleiner Junge über beide Ohren strahlt und rechts Daniel Brühl. Ich hätte mich nie getraut, die Leute anzusprechen. Hätte auch kein Foto gewollt aber naja, Fran Healey und Daniel Brühl sind offenbar gute Kumpels, die zusammen auf Konzerte gehen... Das fällt mir immer als erstes ein, wenn ich irgendwo was von Travis lese oder höre...
Cool story, bro.
Ich weiß noch wie ich bei Rock am Ring war, 07 glaub ich. Da waren allesamt bei den Ärzten aber ich wollte mir lieber Travis ansehen. Das war absolut leer vorne, ich stand da mit nem Döner in der Hand als die Rain on me spielten. Großartige Erinnerung.