laut.de-Kritik

Enya für Hipster? Nur einen Song lang.

Review von

Emily Underhill zieht sich zurück. Als bereits die Hälfte der Songs ihrer dritten unter dem Künstlernamen Tusks geplanten LP "Gold" im Kasten ist, verlässt sie ihre Londoner 5er-WG und begibt sich vom Großstadttrubel in die Grafschaft Devon, denkt nach über sich und eine in die Brüche gehende Beziehung. Nicht nur in metaphorischer Hinsicht ziehen in ihrem Leben Wolken auf: An einem Tag, an dem sie sich zunächst des Gefühls nicht erwehren kann, in einer kreativen Sackgasse zu stecken, färbt sich der Himmel über Devon schwarz.

Ein Sturm zieht auf – und beflügelt Underhills Kreativität. Die Musikerin notiert eifrig Lyrics, ehe sie zum Mikro greift, diese einsingt – und hinterher selbst nicht mehr im Detail weiß, wovon die Lyrics handeln. Doch sie überarbeitet den spontan entstandenen Text von – nomen est omen – "Cold Storm" nicht mehr, dem herausragenden Song ihres dritten Albums. Underhill ist nicht verkopft, sagt, was sie denkt, schreibt, was sie denkt, ist impulsiv – und das kommt "Gold" in jeder seiner fast 42 Minuten zugute.

Unspektakulär eröffnet der Ambienttrack "Wake" mit zirpenden Synthesizersounds und einer weltentrückt säuselnden Protagonistin das Album. Die ansonsten sehr gute Produktion legt ein wenig zu viel Hall auf Underhills Stimme, sodass auch Samples von Audioaufnahmen eines Marsrovers, die sich zu den Synthies hinzugesellen, nicht verhindern, dass der Opener nur haarscharf am Kitsch vorbeischrammt. Enya für Hipster? Nur einen Song lang. Danach folgt ein Treffer auf den anderen.

Bei "Adore" handelt es sich um einen betörenden und großartig gesungenen Ohrwurm, der sich sowohl auf der Indieplaylist wie im Formatradio oder auf dem Jahrmarkt hervorragend machen würde. Dreampop in Perfektion für Autoscooter? Klingt zwar komisch, ist aber so. Die treibenden Drums gehen mit Synthies, einer so simplen wie schönen Keyboardmelodie und Underhills Stimme, die im Refrain ins (Autotune-)Falsett abhebt, eine perfekte Symbiose ein und sorgen auch noch beim zehnten Hören für einen Adrenalinschub. Dass es der zunächst als Ballade eingeplante Song, mit dem die Musikerin auch noch nach mehreren Umarrangements unzufrieden war, doch aufs Album geschafft hat, verdanken wir den Sessiondrummern Oliver Davies und Chris Banner. Diese verpassten dem Song den richtigen Drive und überzeugten Underhill, die Ballade in einen eingängigen Uptempotrack umzuwandeln.

Auch "Artificial Flame" findet die ideale Balance aus elektronischen und analog eingespielten Klängen, aus Samples (großartig: das perlende Keyboardarpeggio) und Studioaufnahmen. Emily Underhill zufolge ist diese Balance kein Zufall. Musikalische Kontraste spiegeln die Stimmungsschwankungen der Musikerin während der Entstehungszeit des Albums wider. Der fordernde Refrain des dritten Tracks konterkariert die sanften Strophen. Kann der Text des Refrains – "I feel you burning like an artificial flame / Into my body / I hear you call my name" – beim Nebenbeihören aufgrund seiner Metaphorik unfreiwillig komisch wirken, erscheint er beim genaueren Hinhören angesichts der Strophen in einem anderen Licht. Hier geht es nicht ausschließlich um körperliches Verlangen. Handelte "Adore" vom Entflammen einer Beziehung, erzählt "Artificial Flame" vom Erlöschen jener (künstlichen) Flamme trotz aller weiterhin vorhandenen körperlichen Anziehung. Nicht nur in musikalischer Hinsicht ein spannender Song.

Emily Underhill lässt sich vom Besten antreiben, was insbesondere die elektronische Musik seit den späten 1970er-Jahren zu bieten hat, um diese Elemente in ihrem eigenen musikalischen Universum zu etwas Eigenständigem zusammenzusetzen: Sie verwendet analoge Synthesizer, die bereits Pioniere wie Brian Eno und Kraftwerk nutzten, orientiert sich musikalisch wie gesanglich an Portisheads goldenen Trip-Hop-Jahren ("Tainted Plates") und holt sich von Eliza Doolittle Inspiration zum lupenreinen R'n'B-Track "Body Ache". Fast alles gelingt. Lediglich letztgenannter Song klingt ein wenig arg stromlinienförmig und entbehrt der Überraschungsmomente und musikalischen Brüche, die Songs wie "Artificial Flame" auszeichnen. "Strangers" versprüht mit seinem Bassspiel nebst Industrialdrums gar Post-Punk-Vibes.

Über ein Dickicht aus Drummachine, E-Gitarre und Synthies hinweg säuselt Emily im Titeltrack einen wütenden Text. Zwischen all den Bett- und Trennungsgeschichten gibt die Sängerin ihren Kommentar zum – ihr nicht weit genug gehenden – Handeln der damaligen britischen Regierung in Bezug auf die Corona-Pandemie ab. Wüsste man es angesichts ihrer Statements nicht besser, könnte der vage formulierte Text auch von Dekadenz im Allgemeinen handeln: "You're untouchable / Wrapped in gold!" Abseits seiner unterkomplexen Lyrics entpuppt sich der Titeltrack als weiteres Albumhighlight.

Den abschließenden Song "Cold Storm" eröffnet Underhill – ebenso wie den Opener, als dessen dunkles Pendant die Musikerin ihn betrachtet – mit stetig lauter werdenden sphärischen Synthiesounds und ihrer mit viel Hall unterlegten Stimme. Nach knapp drei Minuten läuten Bass und Drums das überraschend (post)rockige Finale Furioso ein. Die letzten beiden Minuten des Albums beweisen, dass es Underhill gelingt, mehr als nur sämtliche Subgenres der elektronischen Musik in ihren eigenen musikalischen Kosmos zu integrieren, ohne dass auch nur ein Song überladen klingt – sicherlich mit ein Verdienst der Produktion.

Mit "Gold" übertrifft Emily Underhill ihre beiden ohnehin schon guten Vorgängeralben "Dissolve" und "Avalanche". Vieles, was die Londoner Musikerin anfasst, wird zu mehr als nur Silber.

Trackliste

  1. 1. Wake
  2. 2. Adore
  3. 3. Artificial Flame
  4. 4. Tainted Plates
  5. 5. The Way
  6. 6. Read The Room
  7. 7. Strangers
  8. 8. Gold
  9. 9. Body Ache
  10. 10. Cold Storm

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