laut.de-Kritik
Tyler findet seine finale Form.
Review von Yannik GölzWestside Gunn habe Tyler The Creator gezeigt, dass er Rap noch liebe. Das verkündete das kalifornische Odd Future-Enfant Terrible im Livestream ein paar Minuten vor dem Release seines sechsten Albums "Call Me If You Get Lost". Das erklärt einiges: Es ist das erste reine Rapalbum seit "Cherry Bomb", eine Rückbesinnung nach zwei Platten, die sich jeder Genre-Bezeichnung entziehen wollten. "Call Me If You Get Lost" ist aber mehr als ein Throwback. Es ist eine Synthese des kruden Humors und der absurden Sprachbilder des grimmigen Spitters auf "Wolf", der Neo-R'n'B-Artsiness von "Flower Boy" und der endlosen Sound-Kreativität von "Igor".
So schlägt der neu gefundene Charakter Tyler Baudelaire auf dem Intro des Albums auf wie in seiner finalen Form. Dass hier eine Geschichte erzählt wird, erschließt sich aufs erste Hören nicht einmal, zunächst tut sich nur eine kaleidoskopische Sammlung an Sounds, Atmosphären und Grooves auf. Sperriges Gerumpel mit Sample der 90er-Horrorcore-Gruppe Gravediggaz ("Lumberjack") neben Griselda-artverwandtem Opulence Rap mit DJ Drama-Mixtape-Stimmung ("Hot Wind Blows") bis zu perfekt ausgeführten kontemporären Trap-Rager-Anleihen ("Lemonhead").
Klingt, als ginge hier Kraut und Rüben durcheinander, aber wenn "Call Me If You Get Lost" eine unweigerliche Stärke hat, dann die sonische Kohärenz. Mit einem tadellosen Pacing rollen sich Sounds und Grooves aus, präsentieren eine neue kleine Fuge im Klang-Karussell, verschieben sich ein bisschen und droppen dann spektakulär die Gegenthese. So kommt eine Menge Geröll den Berg herunter, ohne dass die Piste sich verschiebt.
Tyler ist eben auf seine Weise ein Hip Hop-Renaissance-Mann, der als Rapper, Produzent und Kurator ein beeindruckendes Gespür für die perfekte Verwebung von Textur und Persönlichkeit zeigt. All die Sounds, die man zu Gesicht bekommt, man spürt, dass er sie gefeiert und studiert, dass er sich tief in sie vergraben hat und deswegen nun genau weiß, wie er sie zu seinen Zwecken nutzen kann. Selbiges gilt für die Featureliste: Ein Lil Wayne in Bombenform, das passiert ja manchmal in freier Wildbahn, aber wie Tyler Straßenrapper wie 42 Dugg und YoungBoy Never Broke Again aus ihrer Komfortzone holt und großartig in Szene setzt, das kann nur ein großartiges Album leisten.
Ein musikalisches Highlight in diesem Synthese-Ansatz findet sich im Ausnahme-Banger "Juggernaut" gegen Ende der Platte: Erster Verse von Tyler auf einem marodierenden 808-Sirenen-Monster, dann baut der Beat etwas ein, reduziert sich auf nach vorne prügelnde Percussion, wir bekommen Lil Uzi Vert in seiner Prime, darauf Pharrell Williams in perfekter Skateboard P-Manier, während der endlos lebendige Groove immer mehr seinen Einfluss auf Tylers Beatarbeit entblößt.
So kann man auf "Call Me If You Get Lost" unglaublichen Spaß haben, bis man überhaupt zu dessen Kern durchdringt. Fast am Ende der Platte entwirrt der sich aber noch einmal genau: Über ein achtminütiges Boom-Bap-Instrumental rezitiert Tyler retrospektiv den Handlungsstrang des Albums. "Wilshire" könnte einer der besten Storyteller der Rap-Geschichte sein. Wie Tyler da wie in natürlichster Konversation seine Begegnung mit einer vergebenen Frau und dem entstehenden Liebes-Dreieck abwickelt, klingt so intim, ehrlich und immersiv, die Minuten schmelzen ungespürt ins Nichts, und plötzlich ergeben so viele ästhetische Elemente Sinn.
Auf einmal versteht man die Erzählung von malerischen Dates auf "Corso", die unnachgiebige Horny-Offensive auf "Wusyaname" und die defensive, fast etwas verzweifelte Einforderung von Zugeständnis auf "Sweet / Thought You Wanted To Dance". Beim zweiten Hören fühlt die Platte sich wie eine durchgängig erzählte Geschichte an, wo sie davor nur eine Sammlung von Moods und Sounds war. Sogar die nicht zugehörigen Songs ergeben so viel Sinn: Auf der einen Seite fliegt Tyler in die Schweiz aus, um als kunstvoller Hip Hop-Dandy Geld in Europa zu verprassen und sich klarzumachen, was ein geiler Macker er trotz alledem ist, dann nutzt er auf Songs wie "Runitup" Hip Hop-Pathos und Baller-Ästhetik, um ein angeknackstes Ego zu heilen. Gleichzeitig spricht er von wachen Nächten und nimmt uns mit in die Gedankenspirale, wenn er auf Songs wie "Massa" und "Manifesto" durch Selbstzweifel und Unsicherheiten in der Vergangenheit hetzt.
Das macht gerade diese beiden Songs zu beeindruckenden Highlights: "Massa" erzählt seinen Werdegang nach, seine verspätete Pubertät zu "Cherry Bomb" und den Wandel seines Sounds. So direkt und unironisch hat man Tyler noch selten gehört. "I don't come from money, they deny it / Since I don't mirror the stereotypical products of my environment", führt er seine ambivalente Selbstreflektion aus, versucht seinen Stand in verschiedenen Gruppen nachzuvollziehen. Wie steht er als Musiker? Wie als Künstler? Wie als unapolgetisch weirder Nerd? Wie als schwarzer Mann?
Konkreter wird er nur auf "Manifesto", wenn er klipp und klar seine Kontroversen adressiert. Aber hier schleicht sich auch wieder ein bisschen Spite ein: Na, wenn schon, wenn er früher problematischen Kram geredet hat, er würde es wieder tun, weil er immer nur das getan habe, was er für ästhetisch hielt. So wirkt ein Satz wie ein Zwischenfazit seiner ganzen künstlerischen Existenz: "I feel like anything I say, dawg, I'm screwin' shit up (Sorry) / So I just tell these black babies, they should do what they want."
"Call Me If You Get Lost" fühlt sich ein bisschen wie ein Triumph an. "Flower Boy" und "Igor" waren großartig, vielleicht in ihren besten Momenten sogar ein bisschen eingängiger als die Songs hier. Aber bei den beiden Alben war klar, dass Tyler auf der Flucht war, vor einer Version und Vergangenheit von sich selbst, deren Schatten ihn noch stark in Beschlag nahmen. Dieses Album ist eine Versöhnung des alten und neuen Tylers, mehr noch, es ist eine Synthese. Der Story-Arc ist "Igor", die musikalische Sensibilität "Flower Boy", der fragmentierte Stil "Cherry Bomb" und die durch die Bank astreinen Flows und Bars teilen die selbe edgy Rap-Nerd-Liebe seiner ersten beiden Platten.
Ob "Call Me If You Get Lost" sein bestes Album sein könnte, bleibt noch fraglich, vor allem weil der – in Anführungszeichen – "Hit", oder zumindest die ein oder andere auch in Isolation gut funktionierende Single auf den ersten Blick ausbleibt. Aber, gottverdammt, dieses Album strotzt vor Kreativität, Feingefühl und Liebe und wird noch für viele Hördurchgänge Dinge zu entdecken bieten.
8 Kommentare mit 2 Antworten
großartiges Ding!
Tyler zeigt erneut in seinem ureigenen Stil, wie Hiphop aussehen kann, wenn man sich abseits der austretenen Pfade bewegt. Trotzdem ist das Album keine Ansammlung von Experimenten, sondern kehrt nach den beiden Vorgängern sogar ein Stück weit zu seinen Rap-Wurzeln zurück. Aktuell 4/5, kann aber in 2 Wochen 5/5 sein, wird auf jeden Fall noch länger laufen bei mir.
Auf den Punkt.
Sehr stabiles Album.
Sehr stark, Erwartungen übertroffen.
Großartiges Ding geworden. Definitiv Anwärter Album of the Year. 5/5
hammer, höre ich seit wochen rauf und runter