laut.de-Kritik

Coming of Age in New Yorks Straßenschluchten.

Review von

Frech grinsend und dabei ungeniert die nicht unerhebliche Zahnlücke offenbarend blickt es für gewöhnlich aus der Lower East Side in Manhattan, New York. Wiki, mit 28 Jahren im Rap-Kosmos wahrlich kein unbekanntes Gesicht mehr, gilt aus guten Gründen als so etwas wie die personifizierte Antithese zu den materialistischen und verherrlichenden Weltbildern, die in den übrigen Hip Hop-Epizentren des Landes anhaltende Konjunktur erfahren.

Um "Half God", das beste Album in Patrick "Wiki" Morales ohnehin bemerkenswertem Œuvre, zu verstehen, wagen wir zunächst ein kleinen Blick zurück in die Anfänge des vergangenen Jahrzehnts. Mit knapp 20 Jahren zählt Wiki als Member des später aufgelösten Trios Ratking mit seinem anti-autoritären Ansatz aus Noise- und Experimental-Rap zu den progressivsten Kräften der Branche, wovon unter anderem frühe Kollaborationen mit King Krule oder Skepta zeugen. Veröffentlichungen wie "So It Goes" oder "700–Fill" besitzen in Szenekreisen noch oder gerade heute Kultstatus.

"No Mountains In Manhattan", Wikis erstes großes und nach wie vor exzellentes Solo-Projekt, seinerzeit noch über XL Recordings erschienen, mutete im direkten Vergleich schon fast zugänglich an und lässt gerade in der Rückschau Konturen großer Gesten erkennen. Features mit Kindheitsidolen, sorgfältig ausproduzierte Songs, Kreuzverweise zu anderen Genres: Das Album gilt heute als so etwas wie die (verfrühte) Ehrenrunde, obwohl sich Wiki doch gerade erst noch aufwärmte.

Dieser Kontext ist zwingend erforderlich, um "Half God", ein durchweg reduziertes, ja, ein klassisches Album im althergebrachten MC/Producer-Format einzuordnen. Es handelt sich um eine Coming Of Age-Geschichte, die in besonderer Weise von Wikis komplexem Verhältnis zu seiner Heimatstadt New York City und von Identität, Verdrängung und Erwachsenwerden erzählt. Als Sohn puerto-ricanischer und irischer Einwanderer identifiziert sich Wiki mit einer Stadt, die sich wie keine zweite dem ständigen Wandel und neoliberalen Zwängen unterworfen hat.

Das ist der eindrückliche Stoff, dem der Opener "Not Today" einen potenten und denkwürdigen Auftakt setzt. Wiki rappt, unterlegt von der bedrohlichen Kulisse sirenendurchsetzter Straßensequenzen, von der harten Wirklichkeit der Metropole: "The workers carrying bricks, the women bearing kids / Are you hearing this? This what you looking for? Then here it is." Die Ambivalenz lässt sich auch dem anschließenden "Roof" entnehmen, einer drumlosen Ode an die Straßenschluchten New Yorks. Der rasende Veränderungsdruck macht hier vor nichts und niemanden halt, nein, "nothing in this city is sacred".

Dass "Half God" ein tolles und mit Sicherheit bleibendes Album geworden ist, liegt allerdings nicht ausschließlich an Wiki selbst. Navy Blue alias Sage Elsesser, der "skateboard-pro-turned-producer-turned-rapper", Posterboy der New Yorker Core-Marke Supreme (die zwischenzeitlich auch in Hip Hop-Milieus zu zweifelhafter Popularität gelangt ist), produzierte alle 16 Songs der fast einstündigen Platte. Wie schon auf seinem herausragenden Solo-Projekt "Navy's Reprise" arbeitet Elsesser mit klassischen und funktionalen Loops, deren soulige LoFi-Ästhetik immer stilsicher, aber nie aufdringlich daherkommt.

Wiki läuft auf dieser Grundlage wiederholt zu Hochform auf, ob in der ruppigen Real Estate-Abrechnung "The Business" oder dem versöhnlichen Outro "Grape Soda". Der Fokus liegt zu weiten Teilen auf den staubtrockenen Rap-Parts, Hooks kommen in den Songstrukturen des Albums nur spärlich zum Einsatz. Weitere Standouts sind die wunderbaren Feature-Songs mit gleichgesinnten Gästen wie Earl Sweatshirt (die beiden klingen, und das im besten Sinne, in ihren Zwanzigern schon nach Grown Man Rap), dem aufstrebenden NY-Homie MIKE oder Remy Banks, mit dem Wiki in "Gas Face" dem verstorbenen MF DOOM huldigt.

Das Geheimnis von "Half God" liegt folgerichtig in seiner organischen Chemie begründet. Wiki trägt die Songs über die gesamte Spielzeit und findet in seinen Geschichten die richtige Balance aus haarscharfer Beobachtungsgabe, aktivistischen Empowerments und kleinen Gemeinheiten. Die Synergieeffekte mit Navy Blue bilden dafür die überzeugende Grundlage und funktionieren über ein augenscheinlich gemeinsames Verständnis für Ausdruck und Atmosphäre. Die gentrifizierten Straßen New Yorks dürften also weiter Schauplatz von Wikis Kunst bleiben: "We ain't inside, we be todos aquí occupy the whole street." Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er sein verschmitztes Grinsen dabei nicht verlieren - ebenso wenig wie seine charakteristische Zahnlücke.

Trackliste

  1. 1. Not Today
  2. 2. Roof
  3. 3. Remarkably
  4. 4. Can't Do This Alone
  5. 5. Never Fall Off
  6. 6. Drug Supplier
  7. 7. Wik Da God
  8. 8. Ego Death
  9. 9. The Business
  10. 10. Home
  11. 11. All I Need
  12. 12. Gas Face
  13. 13. Promised
  14. 14. New Truths
  15. 15. Still Here
  16. 16. Grape Soda

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1 Kommentar mit 9 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Rezension etwas verspätet aber 4/5 absolut gerechtfertigt! Hervorragende Platte!

    • Vor 2 Jahren

      Hat was von Buckhot, Beats bisschen lahm

    • Vor 2 Jahren

      Auf lahm stehe ich ja persönlich ganz gerne, wenn die Texte stimmen, deswegen ist Ka auch einer meiner ganz großen Lieblinge. So ist das ein bisschen einprägsamer, weil man schon beim ersten Hören fast alles mitkriegt, was gesagt werden soll

    • Vor 2 Jahren

      xc bruder lahm is gut immer gege costa rica

    • Vor 2 Jahren

      Uh, ein cleverer Winkelzug

    • Vor 2 Jahren

      Ich hab ganz schön lange gebraucht, um die Erinnerung aus meinem Kopf zu kramen. Was Fußballvergleiche angeht, bin ich im Kopf eher Messi.

    • Vor 2 Jahren

      Ich mag Wiki sehr, So It Goes immer noch unfickbares Album, hier schlafen mir leider echt die Füße ein. Kann ich mir wegen der "Beats" einfach nicht geben.

    • Vor 2 Jahren

      Dass minimale Drums und repetetive Loops nicht jedermanns Ding sind, kann ich absolut verstehen und es ist auch im Vergleich zu "altem" Rap ein ähnlicher Bruch wie Trap. Nur dass sich die meisten minimal produzierten MCs auf die Texte orientieren. Die Beats waren mir persönlich niemals wirklich das Wichtigste, sondern fielen halt nur negativ auf, wenn sie vom Rapper extrem abgelenkt haben. Ka und Roc sagen immer, dass ihre Intention sei, dass man die Platten zuhause in Ruhe hört und nicht im Walkman im Stadtlärm. Chris meinte ja auch, dass Evidence' neue Platte ihm ein bisschen zu lahm war, wenn ich mich recht erinnere. Es ist immer eine Abwägungssache, finde ich - wodurch wird die eher monotone Stimmung wieder aufgehoben?

    • Vor 2 Jahren

      Bei Ev hab ich das ja revidiert. ;)

    • Vor 2 Jahren

      Ist auch gar nicht so, dass ich das grundsätzlich nicht mag. Das Apollo Brown / Planet Asia Ding fand ich super, Ghostface hat das ja z.T. auch schon ziemlich genial durchgezogen und Ka kann ich mir auch schon geben. Nur hier läufts mir, ähnlich wie beim Ev Album, nicht gut rein. Kann aber auch sein, dass ich ich an der Sache einfach etwas überhört habe.