laut.de-Kritik
Viel mehr als überflüssige Outtakes für Sammler.
Review von Philipp KauseDer Blick fällt auf "Over Their's", einer der genialsten Songs der Post-Punk-Geschichte, der nun in einer neuen Version (mit jenem Apostroph im Songtitel) erscheint. Wire covern sich selbst und machen auf diesem Album einmal mehr das, was sie in den 80ern gerne taten: Erwartungen torpedieren.: Erwartungen torpedieren. Oder genauer gesagt: Was sie von ihrem zweiten Longplayer ("Chairs Missing", 1978) bis zu ihrer neunten Studioplatte ("The First Letter", 1991) als Kreuzung aus PunkRock/Alternative und Electronic/Ambient praktizierten.
Nun erscheint ein Ausschussalbum, das Material aus Sessions und alternative Versionen aus Livesets der Jahre 2010 bis '20 kompiliert und doch weit mehr als überflüssiges Outtakes-Sammlerstück darstellt. Nein, "10:20" ist ein "Rough Guide To The Music Of Wire" und obendrein die überfällige LP für alle, denen die Band in den letzten Jahren allzu straight Singer/Songwriter-rockig daher kam.
Da "10:20" nun die eigene Diskographie quasi intertextuell kommentiert, sei eine Rückblende gestattet, um den Release einzuordnen: 1976 gegründet, startet das Quartett mit "Pink Flag" (1977) in die British Punk Explosion. Erst aus künstlerischem Antrieb, auf dem neunten Album, dann aus der Not heraus, keinen Drummer mehr zu haben, experimentieren Wire mit Elektronik, schließlich mit Drum Machines und Loop-Sequenzen. Dabei machen sie die Erfahrung des "Commercial Suicide", wie Sänger Colin Newman es auf einer Soloplatte prägnant betitelt. Je punkiger, desto besser verkauften sie sich – je elektronischer, desto mehr wurden sie zur Randerscheinung.
"Over Theirs" ist 1987 der Schlusstrack ihres Comebacks nach sechs Jahren Pause, "The Ideal Copy" entsteht wie auch der Nachfolger "A Bell Is a Cup... Until It Is Struck" in Westberlin kurz vor dem Mauerfall, in einer Zeit, als Indie auf seinen Peak zusteuert und Ambient noch im Underground stattfindet, bevor es in Berliner Nach-der-Wende-Kellern in Rave umschlägt. "Over Theirs" ist auch eine Antwort auf die Musik manch untergegangener Kollegenbands des Post-Punk, die New Wave vor allem auf den Spuren von Reggae und Funk aufbauten – die Gitarren sind purer Funk, die Drums sind dubbig, aber die Stimmung wirkt düster und drohend, das Setting versifft, vollgesogen mit dem Art-Rock The Velvet Undergrounds.
Was 2020 damit passiert, erinnert unglaublich stark an "Come With Me" mit Puff Daddy und Jimmy Page im "Godzilla"-Soundtrack (1998). Eine Weichzeichnung, in der die Leadgitarre wie eine Geige wirkt, und man regelrecht Godzilla durchs Bild steigen sieht, Sänger Colin Newman klingt teils wie das Falsett seiner selbst, in den finalen 220 Sekunden (so lange dauert der Schlusston) rotiert der Bass wie eine Laubsäge. Aus 5 Minuten 20 werden faszinierende 8 Minuten 51. In Youtube-Livevideos endet "Over Their's" dagegen mit Alternativerock-Finale.
Das Nahezu-Instrumental "Boiling Boy" entstammt der '88er Berlin-LP "A Bell Is A Cup... Until It Is Struck" und folgt hinsichtlich der Länge dem Original, erscheint jetzt aber satter im Klang, erheblich härter und starkstromgeladener. "German Shepherds" befindet sich ursprünglich auf der '89er-Scheibe "It's Beginning To And Back Again (IBTABA)" und verwandelt sich nun in einen kernigen Alternativerock. Wenig Änderung in der Struktur, dafür deutlich mehr Bass, Hi-Hats und Feingefühl erfährt "He Knows", Rarität einer limitierten Bonus-EP von 2011 und somit erstmals wieder erhältlich.
Ältester, explosivster und punkigster Song bleibt mit 41 Jahren auf dem Buckel "Underwater Experiences". Davon existierten Liveversionen, ein schrammeliger Probemitschnitt und ein Demo mit sehr vielen langen Spannungspausen, die den Song zerlegen. Die neue Studiofassung strahlt viel (Amplifier-)Kraft aus und versetzt auf beeindruckend rohe Weise in die Zeit des ungeschliffenen Stakkato-Punkrock zurück. Nur als Bootleg und Entwurf existierte "The Art Of Persistence": Dieser schöne Songwriting-Pop sollte im Katalog nun wirklich nicht fehlen und kitzelt aus Colin Newmans Stimme untypische Expressivität heraus.
Das Album "Manscape" von 1990 rangiert in der Wire-Chronik als relatives 'Lost Album', von Kritik und Publikum wenig geliebt bis mäßig geschätzt. Das hübsche "Small Black Reptile", immer noch im Live-Repertoire, unterzogen Wire einer recht massiven Änderung: Der beschwingte Soul-Titel im Stile Style Councils wird zur sägend widerhallenden Art-Rock-Nummer von Radiohead'scher Verstärkerseligkeit und avantgardistischer Dissonanz.
Mit "Wolf Collides" präsentieren Wire noch einen neuen Song, oder einen, der bis dato jedenfalls zu keinem Release passt, mit "Small Black Reptile" aber ein schönes Doppel eingeht. "10:20" zeigt Wire facettenreich von ihren besten Seiten und reißt trotz des heterogenen Materials als dramaturgische Einheit mit.
3 Kommentare mit einer Antwort
Musikalisch eine legendäre Band... die bekommen erstmal vorab eine „ungehört 4/5“.
Ungehört bei mir nicht. Die letzten Platten waren schon zum Teil recht öde und nichtssagend.
Höre die alten Platten gerade mal wieder. Da lass ich mir den Release sicherlich nicht entgehen.
Gerade durch. Bester Wire-Release seit keine Ahnung. Muss schon sehr lange her sein.