laut.de-Kritik
Brilliant wie eh und je: Die UK-Indie-Götter trumpfen auf.
Review von Michael SchuhWas tun, wenn man vor über 30 Jahren ein Debütalbum vorgelegt hat, das seither als Genre-Klassiker gefeiert wird? Viele Bands tragen schwer an solch einer Last und trennen sich irgendwann. Colin Newman, Graham Lewis und Robert Grey nahmen sich zwar auch stets großzügige Auszeiten und ließen 2004 Gitarrist Bruce Gilbert ziehen, setzten ihre (pinkfarbene) Flagge jedoch nie auf Halbmast.
Mittlerweile ist das Trio in einem Alter, in dem man sich verstärkt für die korrekte Weinlagerung interessiert, wie uns das Cover verrät. Ganz ähnlich wie der edle Tropfen braucht auch eine Musikkarriere die richtigen äußeren Bedingungen und vor allem Zeit, um auf natürlichem Wege zu reifen.
"Red Barked Tree", das elfte Album der Gruppe, legt den Schluss nahe, dass Wire diese Weisheit verinnerlicht haben. Stilistisch variabel und von überraschend hoher Melodieseligkeit gesegnet, schöpfen die drei britischen Musiker aus einer Erfahrung, die auch junge Indie Rock-Hörer überzeugen wird. Sofern sie sich dafür interessieren, wer den Weg für Bands wie Guided By Voices (wer?), Fugazi oder Franz Ferdinand geebnet hat.
Der rigide Minimalismus ihrer Punk-Pioniertage ist schon seit längerem einer Offenheit für neue Soundaspekte gewichen, die sich heuer im Akustikgitarren-Einsatz auf gleich drei Songs zeigt. Wire können es sich leisten, kommerziellen Druck haben sie sowieso nie verspürt. Die Ironie will es nun, dass sie im Jahr 2011 kommerzieller klingen denn je.
Bleiben der monoton groovende Opener "Please Take" und das energische "Now Was" noch im erwarteten Rahmen, erweitert das verträumte, beinahe Go-Betweens-artige "Adapt" das bekannte Spektrum Wire'scher Kompositionskunst.
Und bevor altgediente Begleiter die Chance erhalten, diesen Schritt zu missbilligen, schlagen Wire mit dem folgenden "Two Minutes" wieder einen Noiserock-Haken. Der atemlose Sprechgesang Newmans gibt dem explosiven Song den Rest, der selbstverständlich nach exakt zwei Minuten endet.
Auch textlich greift der Wire-Chefideologe nicht auf blumige Metaphern zurück, sondern präferiert klare Bilder: "Please take your knife out of my back / Fuck off out of my face" (in "Please Take"). Den lautesten Moment erreicht die Platte in "Moreover", bevor der Uhrwerk gleiche Beat samt Atmosphäre in "A Flat Tent" auf gar wundersame Weise von einer der ersten drei Wire-Alben entlehnt zu sein scheint.
Man hört dem Album an, dass sich seine Schöpfer im Hier und Jetzt absolut wohlfühlen, sich aber einige Gedanken darüber machten, wie man den eigenen Songkanon erweitern und gleichzeitig mit frischen Ideen spannend halten kann. Spätestens mit dem fünfeinhalb (!) Minuten langen, großartigen, vielleicht schlausten Stück ihrer jüngeren Vergangenheit, dem Titeltrack, machen sich Wire unentbehrlicher als so manche Band ihrer Enkelgeneration.
"Red Barked Tree" ist eine dieser Platten, die sich nie aufdrängen würde. Also tun wir es für sie: Anhören, genießen und bei aller Bescheidenheit: kaufen!
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