laut.de-Kritik
Zeitlose Breitseite gegen Machos, Manierismen und Muckertum.
Review von Ingo ScheelLange, viel zu lange, ist die große Punk-Geschichte entlang der männlichen Protagonisten geschrieben, revisioniert, widergekäut worden. Pistols, Clash, Damned, Buzzcocks, Gen X, The Jam. Ja, doch, alles primstens, alles wunderbar, und mit Sicherheit auch visionär, prägend, nachhallend bis zum heutigen Tag. Aber eben nur die halbe Wahrheit.
Auf der anderen Seite des Spielfeldes stehen die ebenso imposanten Einflussgrößen, die nicht nur musikalisch, klamottentechnisch und politisch umwälzten, sondern dem Punk-Phänomen auch noch einen feministischen Zwischenboden einzogen. Siouxsie Sioux. Chrissie Hynde. Hans-A-Plast. Östro 430. Jordan. Und Marianne Joan Elliott-Said, besser bekannt als Poly Styrene, Sängerin, Songwriterin, Vordenkerin und Sprachröhre der Band X-Ray Spex.
Als deren Debüt "Germfree Adolescents" erscheint, im November 1978, haben sich die Rauchwolken der Revolte fast schon wieder verzogen. Die Sex Pistols sind Geschichte, The Jam erwachsen geworden, The Damned haben sich zwischenzeitlich aufgelöst. X-Ray Spex mit Styrene am Gesang, Jak Airport an der Gitarre, Bassist Paul Dean, Saxophonist Rudi Thomson und Drummer B. P. Hurding hatten ihrerseits mit einem der "Zu den Waffen"-Songs einen Eindruck hinterlassen, der sich erst im Laufe der Dekaden in der Geschichtsschreibung seinen Platz erkämpfen sollte.
"Oh Bondage Up Yours" ist ein knapp dreiminütiges, aufwühlendes Stück Selbstermächtigung. Schon das Intro taugt zum universellen Prolog of all things Punk: "Some people think little girls should be seen and not heard ...", erklärt sich Poly Styrene mit fester Stimme. "... but I think: Oh Bondage Up Yours!" Wie Poly die Zauberformel vom Sesam-öffne-dich, von den Fesseln, die gesprengt gehören, hinausbrüllt, gefolgt von einem One-Two-Three-Four, mit dem die Band in den Song kickt, ist nichts weniger als blanke Euphorie, Energie, Eigenbestimmung. Punk im besten Sinne: Zerstört die alten Seilschaften, Kräfteverhältnisse, Machtstrukturen. Es ist der 30. September 1977, das wunderbar zerstörerisch-zickige Saxophon wird hier noch von Gründungsmitglied Lora Logic gespielt, die später ihre Band Essential Logic gründet und auch an Aufnahmen der Raincoats, Swell Maps, Stranglers und Boy George beteiligt ist.
"Germfree Adolescents" nun verarbeitet nicht nur Logics großartige Sax-Arrangements weiter, die Band und Styrene knien sich sowohl stilistisch als auch inhaltlich ins von ihnen erschlossene Terrain. "Art-I-Ficial" sägt zum Auftakt mit Bravour, "Obsessed With You" räumt im Uptempo mit Romantizismen auf, "Identity", getragen von superbem Bläsersatz, thematisiert ebenso wie "I Am A Poseur" die Zusammenhänge von Szene-Duktus und Rollenverständnis. Ein zeitgemäßer Meta-Kommentar aus dem inneren Punkzirkel, klarsichtig und entlarvend.
Musikalisch funktioniert hier eine Formel, die auch über vier Dekaden nach ihrer Entstehung nichts an Drive und Furor, an Aufbruchstimmung und Arschtritt verloren hat. Mal wird leidenschaftlich mit Dissonanz geflirtet, dann wieder wird P-O-P in Großbuchstaben buchstabiert. Poly Styrene kennt dabei kein Nachlassen, alles ist bei ihr am Anschlag, jede Silbe ist pures Konzentrat. Wer blinzelt, hat was verpasst, Sängerin und Band laufen chronisch unter Volldampf.
Über all das ließe sich noch seitenweise ausführen, den Spirit selbst fängt man eh am besten ein, wenn man sich dieses Album einfach mal vorknöpft und auflegt – dann ergibt sich alles weitere von selbst. Wer der Geschichte der viel zu früh verstorbenen Poly Styrene nachstellen möchte, dem sei Zoë Howes wunderbares Buch "Dayglo: The Poly Styrene Story" empfohlen, ein prächtig aufgemachter Pageturner über eine unsterbliche Musiklegende. Oh Bondage Up Yours? You bet. Lang lebe Poly Styrene!
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar
Geheimtipp und Klassiker gleichermaßen. Im überschaubaren Output der Band ist "The Anthology" aber das lohnenswertere Gesamtpaket.
War übrigens Namensgeber eines großen deutschen Popmagazins, dem wir alle hinterhertrauern.