20. März 2014

"Ich hätte mich wohl umgebracht"

Interview geführt von

Laura Jane Grace hieß früher Tom Gabel und hat mit ihrer Band Against Me! nun das Album "Transgender Dysphoria Blues" veröffentlicht. Wir sprachen mit ihr über ihr ganz neues Leben.

Interviewtermin, Hotelzimmer, Nervosität. Dieser Dreiklang ist kurz vor dem Treffen mit Musikern ein so gewohnter, dass er schon zur Routine gehört. Bei Laura Jane Grace, die an diesem Nachmittag zwischen einen kurzen Aufenthalt in Japan und dem Weiterflug nach Paris zu einem Gespräch in Berlin geladen hat, verhält es sich etwas anders. Grace, die Sängerin von Against Me!, hieß früher Tom Gabel, bevor sie sich im Jahr 2012 zur Anpassung ihres Geschlechts und einem öffentlichen Coming-Out ihrer Transgender-Identität entschloss.

Auf dem neuen, sehr persönlichen Album "Transgender Dysphoria Blues" hat Grace diesen Prozess verarbeitet. Die Nervosität erklärt sich mit dem Blick auf die Kladde mit den vorbereiteten Fragen: Sind die nicht zu persönlich? Und vor allem: Würde ich selbst einem mir völlig unbekannten Menschen auf diese Fragen Antwort geben? Bei allzu vielen muss der Interviewer dies für sich selbst verneinen, weswegen er mitten im Gespräch einmal nervös und etwas hilflos stammelt: "Einige Fragen, die ich dir stelle, sind ziemlich persönlich. Falls ich dir zu nahe treten sollte, sag bitte einfach Stop!" Laura Jane Grace lächelt kurz und sagt nur: "Nein. Es ist okay, frag weiter."

Ich möchte mit dir gern über beschissene Dinge sprechen, die einem auf dem Weg zu einem neuen Album und – in deinem Fall kann man das ja sagen – auf dem Weg in ein anderes Leben widerfahren können. Die Probleme, mit denen du und deine Band auf dem Weg zum neuen Album konfrontiert wurden, waren ja immens: Es begann damit, dass euer Label kurz nach Veröffentlichung eures letzten Albums im Jahr 2010 sämtliche Mitarbeiter feuerte, die mit euch zusammengearbeitet hatten.

Laura Jane Grace: Das Album wurde vier Monate vor der Veröffentlichung geleakt, was uns als Band mehr oder weniger egal war, unserem Label aber natürlich nicht. Als ein paar Monate später Steven Cooper Präsident von Warner wurde, hat er alle Leute gefeuert, die mit uns gearbeitet hatten und es war klar, dass wir am Arsch waren. Es hätte Monate gedauert, bis wir ein neues Team zusammen gehabt hätten. Also baten wir unser Label darum, uns aus dem Vertrag zu lassen und sie waren milde genug, dem zuzustimmen. So konnten wir das Album auf unserem eigenen Label, das wir für diesen Zweck gegründet hatten, noch einmal veröffentlichen und auf eigene Rechnung touren.

Was war der Grund, dass Warner Music so mit euch und den Leuten, die mit euch gearbeitet haben, umgegangen ist? Du hast einmal angedeutet, dass sie mit den Verkaufszahlen der Platte unzufrieden waren.

Wie gesagt: Alle wurde gefeuert, also auch die Leute, die unsere Verkaufszahlen im Auge behalten sollten. Aus unserer Perspektive war das Album davor, "New Wave", ein erstaunlicher Erfolg. Aber ich denke aus der Sicht eines Major-Labels ist es immer eine Enttäuschung, wenn du nicht eine halbe oder eine Million Alben verkaufst. Sie wollen nun einmal Hits. Verglichen mit Green Day war es kein Erfolg.

Kurz vor und während der Aufnahmen für das neue Album haben zwei Bandkollegen von dir ihren Ausstieg erklärt. Drummer Jay Weinberg teilte seinen Entschluss grundlos via Twitter mit. Was hast du gedacht, nachdem du das gelesen hattest?

Es war ein Schock. Bis zum heutigen Tag habe ich kein Wort mit ihm gesprochen und es gab auch davor keinen Anhaltspunkt dafür, dass er die Band verlassen möchte. Ich bin aufgewacht an diesem Morgen, habe mein Mobiltelefon auf Nachrichten überprüft, Twitter geöffnet und gesehen, dass er die Band verlässt. Das war zwei Wochen bevor wir auf Tour gehen wollten und natürlich haben wir zu diesem Zeitpunkt auch schon am neuen Album gearbeitet. Aber gut, Jay war noch nicht so lange in der Band, er hat mit uns nie ein Album aufgenommen. Deshalb war es nicht so eine große Sache. Dass später auch Andrew die Band verließ, war ein größeres Problem.

Im Jahr 2012 veröffentlichte der Rolling Stone dann einen Artikel über dich, in dem du erstmals öffentlich gemacht hast, dass du dich in Transition, also in der Anpassung deines Geschlechts, befindest und nicht mehr Tom Gabel, sondern nun Laura Jane Grace heißt. Wie war die erste Reaktion deiner Bandkollegen?

Zunächst waren sie geschockt, aber dann waren sie sehr unterstützend.

Auf dem Album "New Wave" gibt es den Song "The Ocean", in dem du singst: "And if I could have chosen, I would have been born a woman. My mother once told me she would have named me Laura". Ich habe gelesen, du hattest damals Angst davor, deine Bandkollegen könnten dir Fragen nach dem Hintergrund dieser klaren Aussage stellen.

Das ist eine sehr direkte Aussage, stimmt. Ich singe, dass ich lieber als Frau geboren worden wäre, wenn ich es mir hätte aussuchen können. Aber sie haben mir nie Fragen dazu gestellt. Das war sehr überraschend für mich. An einigen Lieder muss man sehr hart arbeiten, aber "The Ocean" war einfach da. Ich habe ihn in fünfzehn Minuten geschrieben. Erst später dachte ich: Diese Zeile klingt ein wenig danach, als ob ich mich outen würde. Ich erwartete, dass die Leute irgendetwas dazu sagen würden und war sehr verunsichert. Ich kann mich erinnern, dass wir im Studio waren, den Song einspielten und als ich den Text sang, hielt ich zunächst inne und fragte in die Runde, ob es für jemanden seltsam klingt. Aber es war für alle cool.

Die Reaktion deiner Fans auf das Coming-Out war ebenfalls sehr positiv und es war ja auch ein Fan, der den entscheidenden Anstoß für deine Entscheidung gab, die Transition zu beginnen. January heißt sie.

January kam seit zehn Jahren zu unseren Konzerten. Sie war eine von diesen Personen, deren Gesicht mir aus welchem Grund auch immer vom ersten Moment an in Erinnerung geblieben ist. Um das Jahr 2010 habe ich sie wieder mal bei einem unserer Konzerte gesehen und mir fiel auf, dass sie sich offensichtlich in Transition befand. Zu dieser Zeit habe ich sehr mit mir und meiner Transgender-Identität gerungen. In diesem Moment aber wurde mir klar, dass hier jemand ist, der seit Jahren zu meinen Konzerten kommt und nun einen Schritt gewagt hat, vor dem ich Todesangst habe.

Daraufhin habe mich wie ein Feigling gefühlt. Vor meinem Coming-Out bat ich sie um ein Treffen. Inzwischen sind wir gute Freunde. In St. Augustine, wo ich damals gelebt habe, hatte ich überhaupt keine Community, ich kannte schlicht keine Transgender.

Wie haben deine Eltern auf dein Coming-Out reagiert?

Meine Mutter hat mich sehr unterstützt. Ich fühlte mich immer sehr stark mit ihr verbunden. Aber mit meinem Vater habe ich seitdem kein Wort gesprochen. Wir waren uns auch nie sehr nahe.

Du hast einmal gesagt, dass dein Coming-Out auch eine Frage des Überlebens war. Was wäre passiert, wenn du dich nicht zu diesem Schritt entschlossen hättest?

Ich hätte mich wohl umgebracht.

Kannst du erklären, wie schwierig es für dich war, wirklich sicher zu sein, dass nur der Schritt zur Anpassung der richtige ist?

Meine frühesten Kindheitserinnerungen handeln von der Unsicherheit über mein Geschlecht. Ich erinnere mich daran, als Vierjähriger ein Madonna-Konzert im Fernsehen gesehen und mich selbst dabei erkannt zu haben: Hey, das bin ja ich! Das ist, was ich machen möchte, wenn ich groß bin, so bin ich. Das war eine erste Selbsterkenntnis. Aber als ich jung war, habe ich nie etwas über Transgender, transsexuell oder Transvestit gehört. Diese Begriffe existierten für mich nicht.

Ich wusste nur, dass die Art, wie ich fühlte, nicht in Einklang damit zu bringen war mit dem Verhalten, das die Menschen um mich herum von mir erwarteten. Ich fühlte mich schuldig, ich habe mich dafür geschämt. Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, las ich einen Artikel über die Tennisspielerin Renée Richards, die in den 70er Jahren die Transition durchgeführt hat. Es war das erste Mal, dass ich etwas darüber hörte und mir die Bedeutung dieses Konzepts dämmerte.

Trotzdem sagte ich mir: Ich bin ein Mann, ich binde mich daran und denke nicht mehr an das Andere in mir. Und mit 20 permanent auf Tour zu sein und 200 Konzerte im Jahr zu spielen, ist eine einfache Möglichkeit, sich selbst zu verlieren. Besonders wenn noch Alkoholismus und Drogenmissbrauch hinzukommen, womit ich wirklich sehr große Probleme hatte.

"Die Schulzeit war die Hölle für mich"

Du hast bereits mit 13 Jahren begonnen, zu trinken und Drogen zu nehmen, oder?

Richtig. Das war etwas, womit ich mich beschäftigen und ablenken konnte. Einen Vertrag bei einem Major-Label zu unterzeichnen ist wie eine Achterbahnfahrt. Plötzlich, nach vier Jahren, kommst du am anderen Ende raus und fragst dich, was da gerade passiert ist. Ich hatte keine Ahnung, wo die vergangenen paar Jahre meines Lebens abgeblieben waren. Aber auf einmal war ich 30 Jahre alt und hatte immer noch mit den gleichen Problemen und Gefühlen zu kämpfen. So habe ich erkannt, dass mich genau das ausmacht und sich auch nicht mehr ändern wird, weder in fünf, noch in 20 Jahren.

Hat dieses Verstecken deiner weiblichen Seite auch damit zu tun, dass es absolut nicht mit der erwarteten Rolle eines Frontmannes in einer Punk-Band zusammenpasst?

Mit Sicherheit. Ich bin auf die Bühne gegangen und wusste überhaupt nicht, wer zum Teufel ich war. Ich wusste nicht, wie ich mich dort verhalten und was ich sagen sollte. Dann gibst du Interviews, posierst für Fotos, drehst Videos und wirst damit in einen Wettbewerb mit anderen männlichen Sängern gezogen. Ich hatte das Gefühl, ich müsse in dieser Welt bestehen und das löste diese extreme Dysphorie in mir aus, diese fundamentale Missstimmung mit der Rolle, die ich mich zu spielen gezwungen sah. Dieses Bild kaputtzuschlagen war sehr befreiend für mich.

War dein Coming-Out auch eine Befreiung für dein Songwriting?

Auf jeden Fall. Songs zu schreiben war jetzt auf gewisse Weise einfacher. Ich konnte aus dem Herzen schreiben. Es ist unzensiert und sehr persönlich - aber natürlich geht es auch um Politik. Wir hatten zwar immer politische Songs auf den Platten, aber da ich aus der Perspektive einer Person aus einem reichen Industrieland schreibe, hat sich mir immer die Frage gestellt: Wie kann ich über etwas urteilen, was sich aus der Sicht einer anderen Person an einem anderen Ort der Welt ganz anders darstellt? Da hat man es mit persönlichen Dingen natürlich leichter.

Im Song "Dead Friend" geht es um John Paul Allison, genannt Pope, der Lichttechniker auf euren Tourneen war und im Jahr 2012 gestorben ist. Was hat ihn für dich so besonders gemacht?

Er war einer von den Personen, die du nur selten im Leben triffst: Sehr vielschichtig, sehr echt, sehr kreativ, in vielen Dingen so etwas wie ein Genie. Wir sollten ein Konzert in Nashville spielen, da ist er auf eine Leiter geklettert, um an einem Scheinwerfer zu arbeiten. Die Leiter verrutschte, er fiel herunter und brach sich den Fuß. Wir brachten ihn ins Reha-Zentrum und waren guter Dinge, was seine Genesung betrifft. Ein paar Wochen später ist er gestorben.

Sie hatten ihn wegen psychischer Probleme medikamentös behandelt und ihn umgebracht, weil sie ihm zu viele Pillen gegeben hatten. Wenn du jemanden wie ihn in einem solch jungen Alter sterben siehst, dann fragst du auch nach deiner eigenen Vergänglichkeit. Das war ein wichtiger Moment für mich bei der Entscheidung, die Transition durchzuführen: Du musst im Hier und Jetzt leben und ehrlich zu dir selbst sein.

Im Song "Two Coffins" sprichst du zu deiner Tochter. Du hast gewisse Ängste darüber geäußert, wie sich euer Verhältnis entwickeln wird, wenn sie mitbekommt, dass du eine Transgender-Frau bist. Ging es auch darum, dass sie in der Schule Probleme bekommen könnte?

Das ist die eigentliche Angst. Die Schulzeit war die Hölle für mich. Ich wurde oft verprügelt, ich wurde schikaniert, ich weiß, wie grausam Kinder sein können. Ich möchte meine Tochter beschützen, ich möchte nicht, dass Leute grausam zu ihr sind. Es ist sowieso schon eigenartig genug, dass ich Musiker bin, schon dadurch unterscheide ich mich ja von den anderen Eltern. Ich bin ab und an im Fernsehen zu sehen, ich spiele in einer Band, und bin ein Transgender, das bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie hat noch keine öffentliche Schule besucht, sie geht in eine Montessori-Schule und wir werden sehen, wie es ihr damit geht.

Zum Zeitpunkt deines Coming-Outs hast du noch in einer Beziehung mit der Mutter deiner Tochter gelebt und ihr wolltet das auch fortführen. Inzwischen lebt ihr getrennt. Hat die Transition das beeinflusst?

Schwierig zu sagen, aber ich denke schon. Ich hatte nicht vor, die Beziehung zu beenden, sie hat das entschieden. Es ist also eher eine Frage, die du ihr stellen müsstest. Aber gut: Beziehungen ändern sich, das Leben ändert dich, solche Sachen passieren.

Glaubst du denn, dass es in dieser Gesellschaft inzwischen möglich ist, eine feminine Persönlichkeit auszuleben und dennoch als ein Mann akzeptiert zu werden?

Ich denke schon. Wenn man über Transition und Transgender spricht, dann geht es nicht darum zu sagen: Ich war zuvor in Box A und jetzt gehe ich rüber in Box B. Zwischen beiden befindet sich ein weites Spektrum von abweichenden Geschlechterrollen und es gibt verschiedene Arten, sein Geschlecht auszudrücken. Das ist etwas, was die Gesellschaft akzeptieren muss.

Ihr musstet auch aufgrund des neuen Line-Ups euer Album insgesamt drei Mal einspielen. Wie hart war das?

Na sagen wir, es waren zweieinhalb Mal. Aber es hätte die Band beinahe zerstört. Beim ersten Mal hatten wir im Grunde alles eingespielt, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an, deshalb haben wir alles verworfen. Beim zweiten Versuch hatten wir bereits alles eingespielt, nur mein Gesang fehlte noch. Das war der Zeitpunkt, an dem Jay ausgestiegen ist. Unser neuer Drummer Adam hat dann versucht, das Schlagzeug auf die bereits fertigen Bass- und Gitarrenspuren zu spielen.

Aber die Gitarren wollten nicht recht mit den Drums harmonieren, also mussten wir ein weiteres Mal von vorne beginnen. Aber es hat die einzelnen Songs verbessert. Mit jeder Aufnahme sind Dinge hinzugekommen. Adam hat auch eine Menge Neues eingebracht, seine Ideen haben viele Songs noch einmal wachsen lassen.

Das neue Album klingt weniger glatt als die direkten Vorgänger. War das auch dem chaotischen Aufnahmeprozess geschuldet?

Unser technischer Anspruch war ein anderer. Auf "White Crosses" wurde jede Gitarre zweispurig aufgenommen. Das Ausmaß der verschiedenen Einstellungen bei Verstärkern, Gitarren und Pedalen war damals extrem, unser Budget war auch viel größer. Diesmal ging es uns darum, den einen passenden Gitarrensound zu finden, der das Gefühl eines Songs am besten ausdrückt und es mit dem durchzuziehen.

Damals hatten wir ein fantastisches Team mit Butch Vig und Alan Moulder. Aus dieser Erfahrung wollte ich so viel wie möglich lernen und habe versucht, auf jedes Detail zu achten, auf jeden Knopf, der gedreht wurde, auf sämtliche Einstellungen. Bei diesem Album konnte ich alle Dinge anwenden, die sie mir beigebracht hatten. Mit ihnen zusammenzuarbeiten war sozusagen meine Collegezeit und das hier ist meine Abschlussarbeit.

Against Me! ist mein Anker. Wenn du eine Transition durchmachst, wenn sich so viele deiner persönlichen Beziehungen verändern und ein großer Teil deiner Identität, dann brauchst du so etwas. Ich mache das hier seit ich 17 Jahre alt bin, jetzt bin ich 33. Ich brauche das auch als stabilisierenden Faktor in meinem Leben. Wenn sich alles in meiner Welt so radikal verändert und die Band nun auch noch verschwindet, dann wüsste ich nicht, ob ich das überleben würde. Ich brauche Against Me! als Ausdrucksmittel für meine Kreativität und um Aggressionen loszuwerden. Auch heute noch.

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