laut.de-Kritik

Jazz als Ausdruck spirituellen Verständnisses.

Review von

Mit "Universal Consciousness" (1971) emanzipierte sich Alice Coltrane endgültig von der Musik ihres Ehemannes John Coltrane, ohne jedoch seine Werte zu verleugnen. Ohne die Freiheit, die er auf "Ascension" (1965) errungen hatte, wäre dieses Album kaum möglich gewesen. Dabei klingt es offener und avantgardistischer als seine Vorgänger. Außerdem bündelt die Musikerin ihre Stärken kompakter. Dadurch kehrt sie den "kontrapunktischen Akkorden" und der "zur Schau gestellten Virtuosität" im Jazz den Rücken. "Universal Consciousness" lebt letzten Endes vom puren Ausdruck.

John Coltrane stand wie kein zweiter Tenorsaxofonist im Jazz für Intensität, die er auf "Ascension" noch mehr verstärkte, indem er sich Pharoah Sanders für diese Scheibe ins Boot holte. Der war zu dieser Zeit neben Albert Ayler der einzige Musiker, der an diesem Instrument mit seinem kraftvollen Spiel mithalten konnte. Vom musikalischen Konzept orientierte sich 'Trane', so sein Rufname, an Ornette Coleman und drang somit in den Free Jazz vor.

Kurze Zeit darauf zerbrach sein klassisches Quartett nach und nach. Für Pianist McCoy Tyner, der diese Neuausrichtung überhaupt nicht begrüßte, kam Alice Coltrane, die 'Trane' im Oktober 1965 zur Frau nahm, in die Band.

Sie hatte bei seiner Fangemeinde von Anfang an keinen guten Stand, da sie an die Virtuosität Tyners nicht heranreichte. Demgegenüber konnte sie nur an der Seite ihres Gatten als Musikerin reifen. Der brachte ihr bei, "nicht auf einer Stelle zu treten und bei einem Akkordmuster zu verharren." Darüber hinaus brachte er ihr die östliche Religion, Philosophie und Meditation nahe. Die spirituellen Erfahrungen, die sie gemeinsam machten, ließen sie auch in ihre Musik einfließen.

Bis John 1967 an Leberkrebs verstarb, erwies sich Alice als gleichberechtigte musikalische Partnerin an seiner Seite und füllte die Lücke exzellent, die Tyner hinterließ. Dies untermauert "Stellar Regions" eindrucksvoll, das erst 1995 posthum erschien. Da saß schon Rashied Ali für Elvin Jones an den Drums. Nur Bassist Jimmy Garrison, der einzige verbliebene Musiker des Quartetts, das man auf Platten wie "Expressions" (1967) um Pharoah Sanders zum Quintett erweiterte, hielt 'Trane' bis zu seinem Lebensende die Treue.

Nach seinem Tod schloss sich Alice mit Sanders, Garrison und Drummer Ben Riley für ihr Debüt "A Monastic Trio" (1968) zum Quartett zusammen. Danach führte der Tenorsaxofonist mit Alben wie "Karma" (1969) das Vermächtnis John Coltranes noch energetischer und rauschhafter fort, ohne jedoch an die hymnische Klasse seiner Musik heranzureichen. Der beteiligte sich demnach nicht am Nachfolger "Huntington Ashram Monastery" (1969). Dafür setzte die US-Amerikanerin erstmalig eine Harfe ein, die sie von ihrem Gatten zu ihrer Hochzeit geschenkt bekam. Ebenfalls hat ihr arpeggioreiches Klavierspiel etwas Harfenähnliches.

Sanders hörte man zuletzt auf "Journey In Satchidananda" (1970) an ihrer Seite. Da ebnete sie der Weltmusik ihren Weg, indem sie die Komplexität von Johns Musik um exotische Instrumente wie einer Oud und einer Tambura aufweichte.

Doch erst ohne den Tenorsaxofonisten fand sie auf "Universal Consciousness" - auf dem sie zum ersten Mal als Organistin in Erscheinung trat - zu einer eigenen Klangsprache, gemäß ihrem Credo: "Ich möchte Musik spielen gemäß den Idealen, die John deutlich gemacht hat. Ein kosmisches Prinzip, ein spiritueller Gesichtspunkt soll – genau wie bei ihm – die Realität sein, die hinter der Musik steht."

Dies verdeutlicht alleine das Titelstück, das sich durch die atonalen Geigenarrangements, die aus Ornette Colemans Feder stammen, die wilde Schlagzeugarbeit von Jack DeJohnette, die treibenden Basssounds von Jimmy Garrison - der sich nach "A Monastic Trio" an keiner Studioaufnahme von ihr mehr beteiligte - und ihrem versunkenen Orgelspiel auszeichnet, das in außerweltliche Sphären führt.

Vor allem die Streicherklänge, die John zu Lebzeiten nicht mehr umsetzen konnte, obwohl es ein großer Wunsch von ihm war, bleiben im Jazz nach wie vor ohne Beispiel. Die vier Geiger gehörten den unterschiedlichsten Lagern an: Julius Brand und Joan Kalisch entstammten der Konzertmusik, während sich Leroy Jenkins dem Free Jazz verpflichtete und John Blair Soul spielte.

Sie erzeugten gemeinsam einen Sound von atemberaubender Tiefe, der mit den Schönklang früherer Streicheraufnahmen im Jazz keine Gemeinsamkeiten aufweist. Es klingt sowohl das Avantgardistische in der modernen Klassik als auch das Eindringliche im Jazz an. Weiterhin schimmert in den Arrangements die Hymnenhaftigkeit John Coltranes durch - kombiniert mit der Schwere von Bebop und Blues.

Als Musikerin etablierte sich Alice, als sie noch als Jugendliche in ihrer Geburtsstadt Detroit lebte, ohnehin schnell im Umfeld des Multiinstrumentalisten Yusef Lateef - der eine Menge Inspiration aus der Musik und den Religionen des Ostens bezog - als versierte Bebopperin. Im Anschluss studierte sie in Paris klassische Musik und Jazz.

Auf "Universal Consciousness", das sie vom 6. April bis 19. Juni 1971 in ihrer damaligen Wahlheimat New York City aufnahm, verdichtete sie all ihre Einflüsse zu einem eigenständigen Gesamtkunstwerk - frei von irgendwelchen Erwartungshaltungen. In erster Linie wollte sie ihr spirituelles Verständnis mittels ihrer Musik zum Ausdruck bringen.

"Dieser Titel bedeutet tatsächlich kosmisches Bewusstsein, Selbstverwirklichung und Erleuchtung. Diese Musik erzählt von den unterschiedlichen Wegen und Kanälen, durch die man hindurch schreiten muss, bevor sie den erhabenen Zustand absoluten Bewusstseins erreicht", sagte sie einmal über das Album. Im Gegensatz zu Pharoah Sanders und Albert Ayler, die mit ihren Platten politische Statements lieferten, schaute sie in ihr Inneres, um ein Höchstmaß an Expressivität erreichen zu können. Zugleich ließ sie kontinentale, ethnische und religiöse Grenzen hinter sich.

So verliert sie sich an ihrer Orgel im groovig-souligen "Battle At Armageddon" - das im Titel auf die Schlacht Gottes gegen eine Armee teuflischer Mächte auf dem Berg Megiddo anspielt - in Exstase, während sie Rashied Ali mit seinem hektischen Drumming kongenial begleitet. Der drückt mit einem gelungenen Solo in der Mitte der Nummer seinen eigenen Stempel auf und beendet sie mit einem lauten Knall als Symbol für das Erlöschen des Bösen.

Anschließend huldigt Coltrane mit "Oh Allah" dem islamischen Gott. Dabei wechseln sich verwunschene Streicher, die in eine Welt aus Tausend und einer Nacht entführen, mit ihren Soli gegenseitig ab. DeJohnette und Garrison halten sich dagegen dezent im Hintergrund, so dass ihre melodische Seite noch deutlicher zum Tragen kommt als bisher.

Noch mehr Eingängigkeit bietet "Hare Krishna", ihre Ode an die gleichnamige Bewegung aus Indien, die in den 70ern durch die Hippies in Europa Bekanntheit erlangte.

Sie gestaltet sie als instrumentales Mantra, durchzogen von erhabenen Orgeltönen, Tamburaklängen, für die sich Tulsi auszeichnet, DeJohnettes abwechslungsreichem Drumming, Clifford Jarvis' fulminantem Percussionspiel, akzentuierender Bassarbeit und sphärischen, repetitiven Streichern, die über allem schweben. Durch das Zusammenspiel aller Beteiligten kommt tatsächlich Magie auf. Letztlich tut sich mit der Nummer eine völlig eigene musikalische Welt auf, während der Himmel voller Geigen hängt.

"Sita Ram" steht im Hinduismus als Sinnbild für die weibliche und männliche Einheit und außerdem für ein Leben mit Freude und Liebe. Dementsprechend sprudelt der Track mit fantasiereichen Orgel- und Harfen-Soli zu meditativen Tamburaklängen, federnden Drums von Clifford Jarvis und zurückgenommenem Bass vor Glückseligkeit und Daseinslust nahezu über.

Am Ende taucht man in "The Ankh Of Amen-Ra" in die ägyptische Mythologie ein, wenn uns das behutsame Glocken- und Schlagzeugspiel von Rashied Ali und die verträumten Harfen- und die psychedelischen Orgelsoli zu einem Trip in die Wüste mitnehmen. Ein hervorragender Abschluss für ein Werk, das Orient und Okzident miteinander versöhnt.

Eventuell entdeckte Alice durch ihre Auseinandersetzung mit den verschiedensten Glaubensansätzen ihre wahre Bestimmung. Sie konvertierte 1972 zum Hinduismus und verlagerte ihren Lebensmittelpunkt nach Kalifornien. Noch im gleichen Jahr brachte sie John Coltranes unveröffentlichtes "Infinity" heraus, das sie um zusätzliche Streicherarrangements erweiterte. Seitdem gilt sie als Hassobjekt seiner Fangemeinde, die sie als Kitschistin verschreit, was ihre Leistungen zu Unrecht schmälert.

Eher verwaltete sie 'Tranes' Vermächtnis mit Bedacht, zumal er damit haderte, sich von der Tonalität abzuwenden. Er hätte das Thema von "My Favorite Things" vielleicht so lange weitergespielt, bis man es nicht mehr verbessern konnte. Er hatte nur nicht die Fähigkeiten gehabt, das auszudrücken, was er wirklich ausdrücken wollte. Weil er mit einfachen Mitteln nicht die Expressivität erzielte, die er ein Leben lang anstrebte, wendete er sich freieren Formen des Jazz' zu.

Eine logische Konsequenz also, dass die Musikerin auf "World Galaxy" (1972) zwei seiner essentiellsten Stücke mit ihren eigenen Mitteln neu interpretierte, nämlich das erwähnte "My Favorite Things" und den ersten Teil von "A Love Supreme".

Dass sie avantgardistischen Jazz auf ein neues Level hievte, rief sie wieder mit "Translinear Light" von 2004 in Erinnerung, das sie nicht als Comeback erachtete, nachdem sie sechsundzwanzig Jahre lang keine Alben im herkömmlichen Sinne aufgenommen hatte, sondern als Erinnerung für ihre Kinder. Wenn man sich den New Age-Kitsch für die Ramschabteilung im Drogeriemarkt wegdenkt, den sie sonst so elegant umschiffte, bleibt ein recht überzeugendes Album.

Zudem entstand das Werk unter Mitwirkung ihrer beiden noch lebenden Söhne aus ihrer Ehe mit John Coltrane, nämlich Oranyan, Gitarrist und Tenorsaxofonist, und Ravi, heute ein geschätzter Post-Bop-Saxofonist, der es auch produzierte. Sie schloss am 12. Januar 2007 in Los Angeles nach einem Lungenleiden ihre Augen für immer. Dennoch dürfte - ihrem Glauben nach zu urteilen - ihre Seele auf der Erde weiterleben.

Ihre Musik tut es ohnehin. Ihr Großneffe Steven Ellison alias Flying Lotus greift in seinen Tracks auf Samples von ihr zurück - ebenso wie unter anderem Cypress Hill, The Cinematic Orchestra, Skepta oder Dean Blunt. Sie übte mit ihren Platten also nachhaltigen Einfluss auf die zeitgemäße Hip Hop-, Soul- und Elektronik-Kultur aus. Heute treffen sich diese Genres oftmals zu einer gemeinsamen Fusion. Dies ermöglichte die Musikerin spätestens mit "Universal Consciousness", das in seiner visionären Kraft den Arbeiten John Coltranes in Nichts nachsteht.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Universal Consciousness
  2. 2. Battle At Armageddon
  3. 3. Oh Allah
  4. 4. Hare Krishna
  5. 5. Sita Ram
  6. 6. The Ankh Of Amen-Ra

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