laut.de-Kritik

Diese Platte spülte unsere Ohren vom Ballast des Grunge frei.

Review von

Rick Astley war mein Held. Ich sammelte seine LPs und Maxis, war sogar auf seinem Konzert in der Frankfurter Alten Oper. Aus diesem Elend befreite mich meine erste Freundin, die auf den putzigen Namen Mechthild hört. Wir verloren uns in Madchester, zwischen Bands wie The Stone Roses, The Charlatans, James - und Blur.

1992 sah die Welt ganz anders aus. Der vorgegebene Geschmack von MTV sowie der Hass auf Kristiane Backer vereinigte die Jugend Deutschlands. Wer etwas auf sich hielt, war unheimlich depressiv, trug schulterlange Haare, zerfetzte Jeans und Holzfällerhemdchen. Seattle war das Mekka, unsere Bands hießen Nirvana, Pearl Jam und Alice In Chains. Teenager mit Musik depressiv zu machen ist wie Fische aus einem Aquarium zu angeln.

Mitten in unser klar strukturiertes Leben platzten wenig später die runderneuerten Blur mit "Girls & Boys". In einer Zeit, in denen Bands nichts wichtiger war als der LP-Aufdruck "No samples, keyboards or synthesizers used in the making of this record", setzten die Briten plötzlich auf genau jene, auf Pop und Spaß. Das ging nun wirklich nicht. Wir rümpften die Nase und verkrochen uns beleidigt in die dunkelste Ecke unserer Lieblingsdisko. Wir hatten zwar eben noch lautstark "Here we are now, entertain us" gefordert - aber doch bitte nicht so!

In England war die Wahrnehmung eine komplett andere. Man wollte sich nichts mehr aus Amerika vorschreiben lassen. Selbst Gruppen wie Radiohead zwängte man in das Korsett des Seattle-Sounds. Die Lösung fand man drüben mal wieder in der eigenen glorreichen Vergangenheit. Ein Klang, der seit einigen Jahren unterschwellig mit The La's, Pulp und Suede kursierte, wurde zum Allheilmittel. England schrieb sich Britpop auf die Fahnen. Das Motto: "Yanks go home!"

Wenn man heute im Freundes- und Kollegenkreis nachhakt, hört man auf die Frage nach dem liebsten Blur-Album nur selten "Parklife". "Leisure" wird genannt, das späte "13", Kollege Schuh schwört auf "Modern Life Is Rubbish", Kollege Schade auf "Blur". Niemand mag "The Great Escape". Doch nicht die persönliche Größe innerhalb des Blur-Universums macht "Parklife" zum Meilenstein, vielmehr seine große Bedeutung im Raum-Zeit-Kontinuum der Neunziger. Nicht einmal drei Jahre nach "Nevermind" gab es ein zweites Album, das die Musikwelt auf den Kopf stellte. Blur spülten unsere Ohren vom Ballast des Grunge frei.

"Parklife" trägt die Blüten von "Modern Life Is Rubbish". Die beim Vorgänger gesäten Ideen gehen nun auf. Endlich Frühling. Trotz des allgegenwärtigen zynischen Untertons bleibt es ein humorvolles Spaß-Album. Viel mehr als jeder Gorillaz-Release stellt "Parklife" eine comicartige Welt vor. Der Soundtrack setzt sich aus Mod-Rock, Power-Pop, Punk und Walzer zusammen. Blur spielen mit Versatzstücken der Kinks, The Small Faces, The Jam, David Bowie oder den Pet Shop Boys.

Die Gitarren-Riffs von Graham Coxon, einem sträflich unterschätzten Gitarristen, hängen der Bissigkeit der Texte in keinster Weise hinterher. Denn wie einst Bernhard Grzimek in "Ein Platz für Tiere" beobachtet Damon Albarn seine Landsleute in ihrem natürlichen Lebensraum. Der Engländer, das possierliche Kerlchen. "Following the herd / Down to Greece / On Holiday."

Wie es sich gehört, beginnt "Parklife" mit seiner vom Synth- und New Wave-Pop infizierten Hit-Single. In der verschobenen Wahrnehmung der mitgrölenden Masse überragt "Girls & Boys" das Album. Gerne wird auch der Pet Shop Boys-Remix gereicht. Im Video von Kevin Godley bouncen Albarn, James, Coxon und Rowntree munter vor der Collage einer niemals enden wollenden Urlaubsparty. Der wahre Grusel liegt im Alltäglichen. In den allgemeinen Wirrungen aus Sexualität und Geschlechterrollen, die im Refrain des Songs ihren Festgesang finden, war ich dann auch drei Minuten in Damon verliebt. "Du bist sehr schon / But we haven't been introduced."

Alex James erinnert sich in seinem Buch "Bit Of A Blur", wie die Single erst mit dem Umweg über Schweden den Hype startete, wo die Zuschauer des Hultsfred Festivals am Ende der Songpremiere schon die Refrainzeilen mitgrölten. Als Thom Yorke 2003 gefragt wurde, welchen Song er denn gerne geschrieben hätte, war seine Antwort: "Girls & Boys. Bastards!"

Mit einem einzigen gezielten "Oi!" bläst Quadrophenia-Star Phil Daniels den vermeintlichen Überhit hinfort. Eigentlich sollte er die Lyrics für "The Debt Collector" einsprechen. Die liegen aber bis heute nicht vor. Kurzerhand übernahm er die Strophen des Titeltracks und machte aus der wunderbaren ironischen Satire auf die englische Vorstadt gleichzeitig ein Hohelied auf den Cockney-Dialekt. Hierzulande versuchten nicht wenige, Daniels Akzent zu imitieren, was meist zu einem "Porklife" führte. Lena Meyer-Landrut meint wohl immer noch, sie würde diesen perfekt nachahmen. Diese Meinung besitzt sie exklusiv.

Gegenpol zu den beiden Songs bildet "To The End", die zweite Single des Albums. Perfekt in die feinste Abendgarderobe geschnürt und stylisch wie ein perlendes Glas Champagner. Diesen Traum, aus John Barry und Scott Walker geschneidert, veredeln die Background-Vocals von Lætitia Sadier (Stereolab). Doch erst in einer später aufgenommenen Version mit Françoise Hardy findet der Song seine endgültige Bestimmung.

Doch die drei Titel zeigen nur die Spitze eines Eisbergs, dessen gewaltiger Kiel sich anfangs unter der Singles-Wasserobfläche versteckt. "Bank Holiday" versucht, die Energie von Punk zu kontrollieren und nimmt "Song 2" um Jahre voraus. Mit seinem bis ins Detail brillant gestalteten Bläser-Arrangement kuschelt sich der Pop-Song "Badhead" an den verkaterten Schädel. Die Grundmelodie aus "London Loves" baut auf dem Gitarren-Break aus Bowies "Fashion" auf. Melancholisch setzt sich "End Of A Century" mit dem damals omnipräsenten Wahn der Jahrtausendwende auseinander. Wie recht Albarn doch mit seinen prophetische Zeilen hatte. "End of a century / It's nothing special."

Die Größe von "Parklife" zeigt sich nochmals deutlich im Vergleich mit seinem Nachfolger. Im Krieg gegen Oasis versuchten Blur, mit "The Great Escape" nochmals einen draufzusetzen. Das Vorhaben misslang. Bevölkerten "Parklife" noch Figuren, die Albarn trotz allem Spott spürbar am Herzen lagen, schienen ihm der "Charmless Man" und "Dan Abnormal" am Bobbes vorbei zu gehen.

Sieht man von der Soundspielerei "Lot 105" ab, endet "Parklife" mit dem Meisterwerk "This Is A Low", einer der besten und bedrückendsten Songs in der Karriere von Blur. Ein episches Ende, basierend auf dem Shipping Forecast der BBC. Die einzig logische Konsequenz nach "This Is A Low" bleibt, das Album noch einmal von Anfang bis Ende zu hören. Immer und immer wieder. There's No Other Way.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Girls & Boys
  2. 2. Tracy Jacks
  3. 3. End Of A Century
  4. 4. Parklife
  5. 5. Bank Holiday
  6. 6. Badhead
  7. 7. The Debt Collector
  8. 8. Far Out
  9. 9. To The End
  10. 10. London Loves
  11. 11. Trouble In The Message Centre
  12. 12. Clover Over Dover
  13. 13. Magic America
  14. 14. Jubilee
  15. 15. This Is A Low
  16. 16. Lot 105

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25 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    Wann kommt endlich Carlo Cokxxx Nutten ?

  • Vor 12 Jahren

    Schon ein geiles Album. Blur (und auch die Nebenprojekte der einzelnen Bandmitglieder) sind einfach unglaublich vielfältig, wie man es von wenigen Bands kennt, die im Mainstream unterwegs sind oder waren. Das ist es auch, was mich an Oasis stört, sie scheinen irgendwie ständig die selben drei, vier Lieder geschrieben zu haben. Ich hör's mir zwar auch sehr gerne an, aber auf Albenlänge gewinnt da eindeutig Blur.
    Nur versteh ich jetz nicht so wirklich, warum im Text der Grunge so negativ und als "Ballast" dargestellt wird. Für mich ist der Grunge, wenn auch recht negativ, doch eine Befreiung vom ganzen künstlichen Pop, den diese Zeit damals sonst so hervor gebracht hat. Und ich will auch nicht wissen, wie der Alternative Rock-Bereich heute aussehen würde, wenn es die Grunge-Welle Anfang der Neunziger nicht gegeben hätte.