20. Dezember 2004

"Mehr saufen, mehr Sex, was man sich eben so vornimmt ..."

Interview geführt von

Aus einem lockeren Geplauder über Weihnachtseinkäufe, Album-Produktionen und Musik-Fernsehen entwickelte sich dann doch noch ein sehr ernsthaftes Gespräch. Natürlich zum Thema 'Charakter', an dem es Mikael nach eigener Einschätzung mangelt: "Ich mache einfach zu viele bescheuerte Sachen."

Hi Mikael, wie sieht's aus, hast du deine Weihnachtseinkäufe schon erledigt, oder ...

Ach hör bloß auf, keinen einzigen, das wird das totale Chaos geben. Da will ich gar nicht erst dran denken.

Ok, lassen wir das Thema und kommen direkt zu eurem neuen Album "Character". Das tritt mit dem Opener "The New Build" und dem darauf folgenden "Through Smudged Lenses" gleich mal ganz schön in den Arsch. Während andere Bands immer melodischer werden und sich eher dem Mainstream annähern, werdet ihr wieder aggressiver?

Worauf du wetten kannst, hehe. Ich finde das einfach etwas strange, dass alle versuchen, immer melodischer zu werden. Da haben wir keinen großen Bock drauf. Wir wollten einfach ein Album, das nicht so vorhersehbar ist und das wieder eine Spur komplexer und härter ausfällt. Es erschien uns einfach nicht sonderlich sinnvoll, ein Easy Listening-Album aufzunehmen. Dass wir durchaus melodische und leicht konsumierbare Sachen schreiben können, haben wir bewiesen, aber "Character" sollte einfach wieder direkt an die Eier gehen. Für uns war das eine natürliche Reaktion auf das, was wir bisher gemacht haben, und auf das, was die anderen Bands aus unserer Ecke momentan machen. Da versuchen wir uns etwas abzuheben.

Was definitiv gelungen ist. Auf der anderen Seite frag ich mich aber, wo ihr die ganze Aggression herholt? Wenn man euch auf der Bühne sieht, grinst ihr euch immer tierisch einen ab, und du klingst hier am Telefon auch ganz relaxt. Was geht euch denn so auf die Eier? Stressen euch die Freundinnen so sehr?

Hahaha, nein, nicht wirklich. Wenn wir auf der Bühne stehen, ist das einfach ein geniales Gefühl. Man spielt seine Songs, sieht die Fans vor sich, die dazu abgehen. Wie kannst du dabei nicht grinsen und dich wohlfühlen? Andererseits behandeln wir in unseren Songs meist recht ernste Themen. Aber es hat doch keinen Sinn, das auch ständig nach außen hin zu tragen. Für mich ist es immer sehr befreiend, diese Themen zu Papier zu bringen und im Studio diese Emotion noch mal rauszulassen. Das geschieht zwar auch live auf der Bühne, doch da sind einfach zu viele positive Energien, als dass ich die ganze Zeit mit einem grimmigen Gesicht rumlaufen könnte. Ideen für ernste Themen findet man aber überall und jeden Tag. Da reicht es meist schon aus, die Nachrichten anzuschauen.

Das neue Album klingt sehr frisch und spontan. Wie sehr wart ihr vorbereitet, als ihr ins Studio gegangen seid?

Bis ins kleinste Detail. Auf diese Art und Weise arbeiten wir immer. Wir schreiben die Songs und arbeiten sie komplett im Proberaum aus, bevor wir auch nur einen Fuß ins Studio setzen. Dabei geht es dann ausschließlich um das Aufnehmen der Songs. Wir sind keine von denen Bands, die erst im Studio noch neue Songs schreiben oder komplett umarrangieren. Es ist bei uns auch nicht so, dass wir mit 20 Songs ins Studio gehen, alles mal aufnehmen und uns dann zusammen setzen, um zu sehen, welche es davon denn aufs Album schaffen. Was du auf "Character" hörst, ist das, was wir geschrieben haben und was es uns wert war, aufzunehmen.

Immer mehr Metal Bands gehen dazu über, eine Single mit Videoclip zu veröffentlichen. Das habt ihr mit "Lost To Apathy" auch getan. Was genau versprecht ihr euch denn davon? Denkst du, es gibt einen anständigen Markt für so was?

Ja, warum nicht? Ehrlich gesagt hatten wir keine genaue Vorstellung davon, was wir uns davon versprechen sollten. Der Vorschlag wurde vom Label gemacht, wir waren einverstanden, und soweit ich informiert bin, verkauft sich das Teil ganz ordentlich. Das Video läuft hier in Schweden auch ganz ordentlich, von daher können wir uns echt nicht beschweren.

Gibt es eine konkrete Storyline für das Video, oder ist es nur wieder das typische Playback-Spielchen vor irgendeinem Hintergrund?

So wie du das sagst, klingt das ganz schön cheesy, haha. Aber ganz so einfallslos waren wir dann doch nicht, denn wir haben eine paar der Covermotive von Niclas (Sundin) verwendet, und die tauchen jetzt auch in 3D im Video auf, was meiner Meinung nach ganz interessant ist. Das sind dann sehr abgefahrene Landschaften, die ein Freund von uns in Göteborg programmiert hat, und ich bin eigentlich sehr zufrieden damit.

Ich weiß ja nicht, wie das in Schweden ist, aber in Deutschland sieht man auf den Musikkanälen eigentlich nur noch irgendwelche Klingelton-Werbung und wenn man Glück hat, auch mal ein Video. Lohnt sich da der ganze Aufwand überhaupt?

Ich denke schon. In Schweden und allgemein in Skandinavien läuft wesentlich mehr Metal in den üblichen Programmen. In Italien läuft das Video auch ganz anständig, und auch in einigen anderen europäischen Ländern haben wir ein gutes Feedback bekommen. Selbst auf MTV gibt es ja inzwischen wieder eine eigene, wenn auch kleine Metalsendung (Hell's Kitchen, Anm. d. Red.), und außerdem gibt es ja immer mehr DVD-Sampler, auf denen sich so was auch gut macht und die auch einige neue Fans erreichen.

Auf der Single befindet sich auch der sogenannte Chaos Mix von 'The Endless Feed'. Handelt es sich dabei tatsächlich um eine Band, die den Song neu gemischt hat?

Nein, nein, das Ding hat unser Keyboarder Martin (Brändström) remixt und sich dann diesen Namen dazu ausgedacht. Ich finde es aber ganz interessant, weil er damit ein paar andere Aspekt aus dem Song rausgeholt hat. Wir haben auch mal darüber nachgedacht, von anderen Bands wirklich Remixes anfertigen zu lassen, aber so ganz glücklich bin ich mit solchen Ideen nicht. Ich bin kein großer Fan von solchen Sachen, wobei da schon einige interessante Ansätze herausgekommen sind. Wir werden sehen, definitiv verneinen kann ich es nicht, hehe.

Mit dem Single Track "Derivation TNB" habt ihr euch ja mal was besonderes einfallen lassen.

Dabei handelt es sich um Parts aus unterschiedlichen Songs des Albums, die wir alle auch in anderen Tempi oder anderen Arrangements spielen. Das ist dann so eine Art akustisches Memory, hahaha. Sogar ich habe immer wieder Probleme, festzustellen, welcher Part oder welche Melodie aus welchen Song stammt. Die Idee dazu hatten wir schon länger, aber jetzt konnten wir sie endlich mal umsetzen.

"Projector" war damals (1999) im Vergleich zu "Character", ein sehr melancholisches, emotionales Album. Es hat sich auch von allen anderen Alben sehr deutlich unterschieden. Woran lag das?

Das lag zum Teil daran, dass auf einmal alle von der Göteborg-Szene gesprochen haben, und wir mit all den anderen Bands in einen Topf geworfen wurden. Das schmeckte uns nicht sonderlich, weshalb wir einen anderen Weg suchten. Das war etwa 96/97, und es hat uns echt angeödet. Wir wollten einfach beweisen, dass wir nicht nur eine von vielen Death Metal-Bands aus Göteborg sind, sondern wirklich was Besonderes. Es war also das erklärte Ziel, anders an die Sache heran zu gehen. Davon waren viele sehr überrascht und zum Teil sogar richtig geschockt, aber darauf konnten und wollten wir einfach keine Rücksicht nehmen. Es war dringend notwendig, ein Album in dieser Art zu schreiben, damit wir die Köpfe wieder für andere Sachen frei hatten. "Projector" behandelte auch textlich und vor allem emotional ganz andere Themen, als unsere anderen Platten. Es war somit schon eine Ausnahmeerscheinung.

Warum seid ihr danach aber wieder zu eurer alten Herangehensweise zurück gekehrt? Vor allem von cleanen Vocals hast du dich ja wieder komplett verabschiedet.

Das ist einfach die Frage, wo sie hinpassen und wo nicht. Bei "Damage Done" beispielsweise, wollten wir zunächst mal zurück zu dem, was uns ursprünglich dazu bewegt hat, Musik zu machen. Dann war es auch noch so, dass auf einmal unzählige andere Bands auch mit cleanen Vocals und diesen melancholischen Elementen gearbeitet haben, und das hat uns auch ein wenig den Spaß daran verdorben. Aber wer weiß, vielleicht schreiben wir ja auf dem nächsten Album wieder ein paar Songs, bei denen auch cleane Elemente passen. Auf "Character" war das einfach nicht so sehr der Fall.

Ach komm, hör auf, Songs wie "One Tought" oder "My Negation" bieten sich dafür doch förmlich an!

Ja, ok, hast schon recht, haha. Aber es würde sich nicht richtig anfühlen. Es hätte für mich so den Beigeschmack, dass wir das nur machen, weil es viele so hören wollen, und das ist einfach nicht unsere Art.

Das kann ich so gelten lassen. Ihr seid jetzt 15 Jahre dabei und wurdet zu Beginn sicherlich von einigen Bands beeinflusst. Wie fühlt es sich denn an, inzwischen selbst von unzähligen Bands als einer der Haupteinflüsse vermerkt zu werden?

Keine Ahnung, hahaha. Ich versuche, darüber nicht nachzudenken, weil ich auch gar nicht weiß, wie ich auf solche Sachen reagieren soll. Wie soll man denn mit so einem Kompliment umgehen, ich weiß es echt nicht. Wie du schon gesagt hast, wir wurden selbst von einigen Bands beeinflusst, und einige dieser Bands finde ich immer noch großartig, sie sind so was wie meine Helden. Wenn ich mir vorstelle, dass das einigen jüngeren Bands jetzt genauso mit uns geht, dann schwirrt mir richtig der Kopf. Wenn mir das einer sagt, dann sage ich artig danke, lächele verkniffen und mach mich aus dem Staub, haha.

Ihr seid Anfang 2005 mit Kreator auf Tour. Die hatten doch sicher Einfluss auf euch.

Ja, absolut! Einer der größten Einflüsse überhaupt.

Und wie geht ihr mit denen um?

Das sind ganz normale Typen, richtig freundlich und relaxt. Mit denen kann man jede Menge Spaß haben.

Na, merkste was?

Jahaha, schon, aber irgendwie fühlt sich das doch anders an, wenn du selbst in so einer Situation bist.

Dein Sangeskollege von In Flames spricht nicht so gerne über seine Texte, wie sieht das bei dir aus?

Das ist schon ok, frag nur. Es ist nur so, dass ich versuche, mich textlich mit Dingen zu befassen, über die ich im normalen Leben nur sehr schwer sprechen kann. Es sind einfach einige sehr negative und frustrierende Themen, die ich da behandle. Ich würde mich selber eigentlich nicht als negative eingestellte Person bezeichnen. Dieses Album befasst sich sehr mit Einstellungen gegenüber alltäglichen Dingen, Richtungen, die man einschlägt oder auch nicht, Überzeugungen und inneren Werten. Das sagt der Albumtitel ja auch schon aus. Es geht um den eigenen Charakter, wie man diesen ausprägt und dazu steht. In der heutigen Zeit gibt es leider immer weniger Menschen, die wirklich Charakter zeigen und dazu stehen. Ich finde das sehr bedauerlich. Vor allem weil ich gestehen muss, dass wir zwar musikalisch unseren eigenen Charakter haben, ich das von mir persönlich aber nicht unbedingt behaupten kann.

Wie soll ich denn das bitte verstehen?

Naja, ich mache einfach zu viele bescheuerte Sachen, von denen ich eigentlich weiß, dass sie Quatsch sind. Aber anstatt, dass ich den Blödsinn bleiben lass, mach ich's trotzdem und sitze im Nachhinein da und frage mich, was der Scheiß denn sollte. Du weißt schon, man macht sein Hirn und seinen Körper kaputt und weiß es, macht aber trotzdem damit weiter. Das zeugt doch nicht gerade von Charakter.

Komm schon, fast jeder säuft hin und wieder zu viel oder baut sonst irgendeinen Scheiß, der schon von vorne herein nur schief gehen kann.

Ja klar, und das ist stellenweise auch ganz in Ordnung. Ich hätte nur auch immer wieder mal gern die Eier oder eben den Charakter, um daran was zu ändern. Vielleicht im neuen Jahr, hahaha.

Natürlich ... aber egal. Die Textzeile "Look at the shell that is you", aus dem "Track Lost To Apathy" scheint eine große Bedeutung für euch zu haben. Immerhin taucht sie auch auf der Startseite eurer Homepage auf. Handelt es sich dabei um so etwas wie eine Kernaussage?

Nein, eigentlich nicht. Obwohl es schon ein Denkanstoß sein soll. Wenn du dich und deine Einstellungen reflektierst und darüber nachdenkst, was dich antreibt und was du erreichen willst, dann kann es passieren, dass da nicht viel bei rum kommt. Was hast du davon, wenn anderen denken, was du machst sei cool, dabei ist es eigentlich bescheuert. Alles was du tust, ohne eine wirkliche Begeisterung dafür zu empfinden, ist eigentlich nicht viel wert. Natürlich ist es leichter, einfach dem Strom zu folgen als sich selbst als Individuum zu definieren, aber ist das dann wirklich ehrlich dir selbst gegenüber? Ich glaube nicht.

Nächstes Jahr erscheinen "The Gallery" (1995) und "The Mind's I" (1997) noch mal. Gibt es die Neuauflage weltweit oder nur für den amerikanischen Markt?

Kann ich dir gar nicht genau sagen. Eigentlich war das nur für Amerika geplant, aber ich glaube, in Europa werden sie auch erhältlich sein. Die alten Pressungen sind hier wohl auch schon fast ausverkauft, und vor allem auf "The Gallery" sind ein paar ganz coole Bonus-Sachen drauf. Die gab es bisher nur auf limitierten Singles oder als Bonus für Japan. Dazu gibt es ein neues Coverartwork, einen neuen Mix usw. Aber wie gesagt, ursprünglich war es für den amerikanischen Markt gedacht.

Nicht nur Amerika scheint ein guter Markt für euch zu sein, auch Korea. Ihr habt da vor kurzem eine Show gespielt, die sogar fürs Fernsehen aufgezeichnet wurde.

Ja, das war schon abgefahren. Zum einen war das ein sehr gemischtes Festival, so dass alle möglichen musikalischen Stilrichtungen dort aufgetreten sind. Zum anderen fand es sozusagen unter Palmen an einem Strand statt, und du hattest von der Bühne aus die Sicht auf das Meer. Das war schon extrem cool. Wir hatten den Headlinerposten am ersten Tag und spielten vor etwa 35.000 Menschen. Teile von dem Konzert werden auf der Digipack-Version von "Character" zu haben sein. Das war definitiv eine der interessantesten Erfahrungen meines Lebens. Frag mich jetzt aber nicht, ob das tatsächlich dann im nationalen koreanischen Fernsehen lief. Ich glaube zwar schon, bin mir aber nicht 100% sicher.

Wie wirst du Weihnachten und Silvester verbringen?

Weihnachten auf jeden Fall mit meiner Familie und Silvester, hm, noch keine Ahnung. Irgendeine Party wird sich aber schon finden, hehe. Momentan ist da nicht allzu viel Zeit für Planung. Wir hatten einige Shows zu spielen, jetzt die ganzen Interviews, und wenn ich heim komme, ist erst mal Chaosshopping angesagt, um alle Geschenke noch zu bekommen.

Dann will ich dich davon nicht länger abhalten. Haste denn ein paar gute Vorsätze fürs neue Jahr?

Das übliche halt, mehr trinken, mehr Sex, was man sich eben so vornimmt, hahaha. Und du?

Öh, ja, ich schließe mich dir glaub ich an. Außerdem hab ich mir vorgenommen, endlich Rockstar, reich, schön und berühmt zu werden.

Na dann, viel Glück, hahaha.

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