laut.de-Kritik

Gemeinsam für Andy Fletcher: Ihr bestes Album seit "Exciter".

Review von

Ein neues Depeche Mode-Album ist schon immer ein Event gewesen. Für die Fans sowieso, aber auch für die Band selbst. Jede Veröffentlichung ein neuer, von unbarmherziger Härte begleiteter Anlauf, sich gegen die Übermacht der alten Klassiker aufzubäumen, noch dazu im Wissen, dass die Stadien unabhängig vom Ergebnis sowieso ausverkauft sind. Dazu der seit Jahren schwelende Abnutzungskampf zwischen Martin Gore und Dave Gahan um Songwriting-Credits - muss das alles noch sein?

Eigentlich nicht, befand zumindest Gahan. Der 60-Jährige veröffentlichte 2021 mit Soulsavers das Soloalbum "Imposter", seit jeher sein Ventil, um den aufgestauten Druck aus dem Dampfkessel Depeche Mode abzulassen. Seine Lust auf ein neues Albumprojekt übertrug er kürzlich in eine mathematische Form: Diese habe zum Zeitpunkt von Gores Anfrage "bei maximal 25 Prozent" gelegen. Im Falle einer Zusage sei er "die nächsten drei Jahre fest verplant", darüber gelte es in seinem Alter nachzudenken.

Auch Gore stand der Sinn nach Veränderung in der Pandemie. In die seit Jahren angedachte Songwriting-Kooperation mit Psychedelic Furs-Sänger Richard Butler willigt er 2020 ein, um bald festzustellen, dass diese Songs zu kostbar für ein Nebenprojekt sind. Anruf bei Butler: "Das mag jetzt komisch klingen, aber wie stehst du dazu, dass ich unsere Songs für Depeche verwende?" Butlers Reaktion: "Yeah, I love Depeche." Vier von sechs gemeinsamen Songs mit einer Person außerhalb des Bandgefüges landeten auf "Memento Mori", ein Novum.

Gahan wiederum reagierte nicht etwa beleidigt, dass Gore nun sogar noch lieber mit völlig Fremden komponiert als mit ihm, im Gegenteil: Ein Ergebnis der Kooperation mit Butler, der tolle Vorabsong "Ghosts Again", soll sein Motivationslevel aus dem Stand über die 50-Prozent-Marke gehievt haben. Unternehmen Depeche reloaded, also. Produzent James Ford wurde kontaktiert und natürlich Andy Fletcher, kurz darauf war er tot. Ein Depeche-Mode-Album ohne den stillen Ego-Bezwinger, den unscheinbaren Lenker im Hintergrund?

Es ist eine Tragödie, dass Fletchers über die Jahre zum Running Gag avancierter Studio-Kommentar "Does every song have to be about death?" ausgerechnet bei einem Album namens "Memento Mori" nicht mehr erklingen durfte. Vor allen Dingen natürlich, dass der Keyboard-Hüne keinen dieser neuen Songs mehr hörte, die den Totalausfall "Spirit" mehr als wett machen. Trotz Fletchers Tod hielt man am prätentiösen Albumtitel fest, zumal das Thema Sterblichkeit von Gore an dessen 60. Geburtstag im Lockdown Besitz ergriff: "Man fühlt sich wie mit einem Bein im Grab, mindestens", klagte er. Time is fleeting, see what it brings.

"Memento Mori" wirft vor allem Fragen auf: Wie konnte es passieren, dass Gahan von seinem Pressgesang Abstand genommen hat? Wen darf man dafür crowdfunden, der Band die Blues-Standards ausgeredet zu haben? Butler allein ist nicht die Antwort, auch Gores Songwriting geht neue Wege. Herausragendes Beispiel ist ausgerechnet seine Ballade "Soul With Me": Ein träger Synthiesound tropft langsam die Tonleiter herab und erzeugt sofort eine knisternde Spannung wie ein Mix aus David Bowies "Warszawa" und dem "Wizard Of Oz", getoppt von Gores entwaffnender Demut vor dem Unausweichlichen: "I'm ready for the final pages / Kiss goodbye to all my earthly cages."

Das Unbehagen hinsichtlich des Ausgangs irdischen Lebens kleiden Depeche Mode in molllastige Trauersinfonien, die selbst ihren alten, zuletzt merklich eingerosteten Qualitätsstandards entsprechen. Ja, hier sind dieselben zwei Musiker am Werk, deren legendärer Songkanon vor sehr langer Zeit zu viert entstanden ist. Doch streng genommen sind sie heute wieder zu viert: Producer James Ford und die italienische Loop- und Vintage-Synth-Expertin Marta Salogni (Björk, Frank Ocean) gehörten nicht nur zur Kern-Crew, sie bekamen sogar Credits.

Gemeinsam mit Drummer Christian Eigner (den man zum Glück nicht heraushört) sind sie als Komponisten des Gahan-Rührstücks "Speak To Me" geführt, ein weiteres Paradebeispiel für die neuartige Inszenierung von Atmosphäre, die vom Entschluss profitiert, sämtlichen studiotechnischen Firlefanz außen vor zu lassen. Nur in den ersten Sekunden von "My Cosmos Is Mine" manifestiert sich das Luxusproblem, das eine Band vom Schlage Depeche Mode heute begleitet. Der Opener beginnt nicht etwa mit Schlüsselakkorden oder gar einer Melodie, sondern mit Donnergrollen und durch Filter gezerrten Störgeräuschen, aus denen sich dann ein düsteres Elektronik-Pattern herausschält. Im Gegensatz zu "Barrel Of A Gun" oder "Higher Love" mäandert er aber eher ziellos vor sich hin.

Das von Gahan und Gore geschriebene und in dementsprechend harmonischem Duettgesang dargebotene "Wagging Tongue" überführt den experimentellen Beginn in ein klassisches Midtempo-Stück der DM-Spätphase. Ein "Don't Say You Love Me" gab es dagegen zuvor nicht. Die Gore/Butler-Komposition klingt wie ein Scott Walker-Klassiker aus den 60er Jahren oder ein vergessenes Bond-Theme, den Gahans großartiges Crooning veredelt.

"My Favourite Stranger" lässt zur Abwechslung opulente Geräuschkulissen auf einen monotonen Goth-Groove prasseln, besonderen Drive erhält auch diese Nummer wieder durch den Gore-/Gahan-Doppelgesang. In "Caroline's Monkey" funkeln ebenfalls nostalgische Computerbeats, wobei die Strophen hier zunächst etwas träge geraten, der Refrain rettet den Song aber vor dem Mittelmaß. Das an dessen Ende platzierte, tief intonierte "sooometiiimes" ist eine unmöglich unbeabsichtigte Reminiszenz an ihren psychedelischen Klassiker "Clean". Die akustische Ganzkörpermassage "Always You" mit einem Gahan in Hochform war auf einer DM-Veröffentlichung im Jahr 2023 sicher nicht mehr zu erwarten. "People Are Good" huldigt sehr offen Kraftwerks "Computerwelt" - an Überraschungsmomenten arm ist "Memento Mori" sicher nicht.

Der insgesamt stürmischste Song "Never Let Me Go" wirkt da eher wie ein Fremdkörper, und die im ersten Moment aufkeimenden Befürchtungen, hier ein zweites "Soothe My Soul" serviert zu bekommen, erfüllen sich zum Glück nicht. Ein weiteres Highlight ist dagegen die Gahan-Nummer "Before We Drown", bei der einmal mehr das durch Fletchers Abstinenz erzwungene Teamwork des verbliebenen Duos erlebbar wird: Gore wirft sich mit voller Wucht in die Nummer seines Sängers und treibt das wunderschöne Synth-Crescendo nach dem letzten Refrain mit seinen Gesangskapriolen zum Limit.

"Memento Mori" ist Neubeginn und Ende zugleich, künstlerische Auferstehung wie intensiver Abschied, das beste Depeche-Mode-Album seit "Exciter". "Andrew John Fletcher, 1961-2022. In our hearts and minds. Dave & Martin", gedenken sie im Booklet ihrem Freund. Es klingt wie ein Schlussakkord.

Trackliste

  1. 1. My Cosmos Is Mine
  2. 2. Wagging Tongue
  3. 3. Ghosts Again
  4. 4. Don't Say You Love Me
  5. 5. My Favourite Stranger
  6. 6. Soul With Me
  7. 7. Caroline's Monkey
  8. 8. Before We Drown
  9. 9. People Are Good
  10. 10. Always You
  11. 11. Never Let Me Go
  12. 12. Speak To Me

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23 Kommentare mit 38 Antworten

  • Vor 11 Monaten

    Durch Rick Beato d'rauf aufmerksam geworden (und auf den tbh nur durch Anthony Fantano und dessen Interview mit Beato) und ich bin echt positiv überrascht, erst von Ghosts Again und dann von dem Album. Und dabei bin ich außer „Black Celebration“ (was ich echt gut finde), recht wenig mit DM bekannt, außer dem ein oder anderen Alben und den großen Singles. In Bezug auf Fletcher muss ich mir das ganze aber nochmal anhören.
    „Wrong“ fand' ich vor ein paar Jahren (könnte länger her sein) auch eine gute Single.
    Schön, dass so eine große, alte Band noch neue, teils innovative und vor allem gute Sons und Alben macht, die an Klassiker wie dem genannten „Exciter“ 'rankommen! Freut mic auch für die Jungs, auch wenn der Anlass des Albums ein traurige ist, auch, dass es ohne Fletcher so gut geworden ist.
    Hilft sicherlich, dass es nicht die klassische Rockband ist, sondern wenn nicht Pioniere, dann wenigstens early adopters von elektronischem Einfluss im Pop und dass die Gitarre gerade auch etwas wiederkommt hilft sicherlich auch, ich meine diese Mischung aus Gitarre und/oder Bass mit 80er elektronischem Pop/Rock/New Wave (k.A. wie man DM korrekt klassifiziert), die haben sie echt gemeistert. OMD waren auch gut mit ihrem Bass, aber das hatte noch eher Kraftwerk vibes, wie in „Electricity“. R.i.p. Andy Fletcher!

  • Vor 11 Monaten

    Ich werde definitiv es mir mal anhören. Schön das es so gut wegkommt war ja von Delta Machine und Spirit nicht begeistert.

  • Vor 11 Monaten

    Auch mit sehr viel Willen zum Schönhören und großer Liebe zu Depeche Mode komme ich nicht auf das Album klar.

    Es ist definitiv kohärenter und besser produziert als die letzten Alben, manche instrumentelle Sprengsel bieten mehr Harmonie, als die letzten Alben zusammen und Daves Stimme klingt wirklich gut. Aber im Großen und Ganzen bleibt mir einfach nichts nachhaltig im Ohr hängen und macht mir Lust auf viele weitere Umläufe (bis vielleicht Before We Drown, was noch am ehesten ein paar DM-Trademarks in sich trägt).

    Im Gegenteil: Viele der Songs reiten so penetrant auf denselben, repetitiv wiederholten vier bis sechs Akkorden rum, dass sie mich in ihrer Einfachheit richtiggehend nerven. Vier endlos wiederholte Akkorde, Dave eskaliert ein wenig, 15 Sekunden nett zu hörender Instrumentalpart, fertig. Wenn es gut läuft noch zwei weitere Akkorde für den Refrain.
    Musik muss ja nicht übermäßig kompliziert sein, um zu gefallen, aber das ist mir – gerade für DM – zu wenig, das holt mich nicht ab, zumal ich da auch keine großen Refrains höre.

    Das Album hat bei mir großes Potential von allen DM-Alben die geringste Spielzeit zu bekommen. Ich freue mich ehrlich für jeden, dem es gefällt, meins isses nicht.

    • Vor 11 Monaten

      Was würdest Du mir von den neueren Projekten empfehlen?

    • Vor 11 Monaten

      Gutes review eines sehr guten Albums...
      Aber Spirit als total ausfall zu bezeichnung ist schon hirnrissig !

    • Vor 11 Monaten

      Spirit dürfte ohne Frage das schwächste Album von DM sein, und gemessen an alten Glanztaten geht die Bezeichnung "Totalausfall" vollkommen in Ordnung.

    • Vor 11 Monaten

      Das kann man so sehen. Muss es aber nicht. Aber wer meint er müsse ständig alles miteinander vergleichen ..tut mir leid. Der hat schon bevor er etwas angehört hat die musikalischen Scheuklappen über die Ohren gestülpt. Kann man machen. Ich ziehe eine andere Herangehensweise vor.

  • Vor 11 Monaten

    zum glück ist es besser als exciter. aber das sind alle anderen dm alben ebenso. ein paar wirklich gute songs und ein hervorragender sound auf platte.

  • Vor 11 Monaten

    Gut geschrieben. Sehr gut. Nur die "Meinung " zu Exiter lässt schmunzeln. Das einzige Album der Band mit dem ich mich gar nicht anfreunden kann. Nun denn, ich würde sagen: MM ist das beste Album seit Playing the Angel - vielleicht sogar seit Ultra. Spirit würde ich auch nicht als Totalausfall bezeichnen. Wenn es auch nicht das beste Album geworden ist, würde ich es sogar Exiter noch vorziehen. Aber Spirit fehlt etwas - und MM hat es.

  • Vor 9 Monaten

    ist wieder besser als die letzten Ausstöße der Combo. Mit Always You ist sogar ein guter Song drauf, den man gerne mehrmals hören mag. Ab und an auch mal Kraftwerkzitate. Also nach den letzten Rundteilen ohen Erwartungen reingehört: gehtso.