laut.de-Kritik

Kühler Kopf trifft warmes Herz: Vince Clarke und Andy Bell pur.

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Erasure sind ein kleines Phänomen. 35 Jahre nach ihrer Gründung kommen sie mittlerweile auf achtzehn Alben. Manche davon waren großartig ("The Innocents", "Chorus"), manche zum Vergessen ("Other People's Songs", "Light At The End Of The World"). Aber egal wie das Resultat ausfiel, nie hatte man das Gefühl, dass es nicht vom Herzen kam. Nie das Gefühl, dass Musik für sie zu einer lästigen Arbeit verkommen war.

Bei ihrem so eigenen Synth-Pop-Sound, irgendwo zwischen kompletter Nostalgie und eigener Nische, vergisst man leicht, dass sie sich sehr wohl immer wieder ausprobierten. Etwa mit dem Ambient-Pop auf "Erasure", dem holprigen "Loveboat" oder dem Country-Album "Union Street". Auf den letzten Longplayern fanden sie jedoch zu den Klängen ihrer Anfangszeit zurück. Die Folge war eine zunehmend steigende Formkurve, die zuletzt in "World Be Gone" gipfelte. Ein Werk zwischen selbstsicherem Pop und düsteren politischen Beobachtungen.

"The Neon" liefert nun die doppelte Portion Nostalgie. Einerseits die seit Jahrzehnten nicht mehr im Jetzt angekommenen Erasure, die andererseits im Rückwärtsgang sogar an ihrem Gründungsjahr 1985 vorbei schießen. Was Vince Clarke da in "Tower Of Love" zusammengetüftelt hat, hätte so auch auf "Speak And Spell" seinen Platz gefunden.

Die Arrangements auf dem selbst produzierten Album sind diesmal reduziert, zeitweise ungewöhnlich hart. Dem entgegen setzt Andy Bell Melodien, die am liebsten die ganze Welt umarmen möchten. Mag er sich wie in "Fallen Angel" noch in den Strophen zurückhalten können, spätestens in den Refrains bricht alles aus ihm heraus. Politik ist diesmal nicht. Nur das, was uns momentan am meisten abgeht: Spaß und jede Menge kuscheln.

Nicht selten wirkt "The Neon" wie ein Konzentrat der bisherigen Karriere der beiden Briten. Dabei liegt jedoch ein deutlicher Fokus auf dem Sound, den Kompositionen und der Geschlossenheit von "Chorus", ohne ganz dessen Klasse zu erreichen. Jenem Album, mit dem sie es 1991 noch einmal erfolgreich schafften, sich dem aufkommenden Grunge und der sich verändernden Musiklandschaft entgegenzustellen.

Songs wie "Shot A Satellite" und "Hey Now (Think I Got A Feeling)" gehören zu ihren stärksten Singleauskopplungen der vergangenen Jahre. Zwei energiegeladene Synth-Pop-Perlen, die sich vor dreißig Jahren hartnäckig in den Charts festgebissen hätten. Die Welt hat sich jedoch weiter gedreht, und so bleibt Erasure nur Anerkennung aus der kleinen Nerdecke übrig. Einzig die Ballade "New Horizons", bis auf das schrecklich staubige Piano an für sich gelungen, wirkt deplatziert wie ein Fremdkörper.

Letztendlich bietet "The Neon" Erasure in ihrer pursten Form: Vince Clarke im Spiel mit analogen Synthezisern und Andy Bells charakteristischem Gesang. Der kühle Kopf trifft auf das warme Herz. Zusammen haben sie das, was jeden guten Act, egal, ob in guten oder in schlechten Zeiten ausmacht: Sie sind unverwechselbar. Seit 35 Jahren.

Trackliste

  1. 1. Hey Now (Think I Got A Feeling)
  2. 2. Nerves Of Steel
  3. 3. Fallen Angel
  4. 4. No Point In Tripping
  5. 5. Shot A Satellite
  6. 6. Tower Of Love
  7. 7. Diamond Lies
  8. 8. New Horizons
  9. 9. Careful What I Try To Do
  10. 10. Kid You're Not Alone

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3 Kommentare

  • Vor 3 Jahren

    Eine ähnlich große, nicht bloß verwaltende Institution wie die Pet Shop Boys. Bin gespannt!

  • Vor 3 Jahren

    „Modern pop music should just write Vince a check for like a billion dollars for ripping him off all day long. Every synth sound, all the low end, that’s all stuff Vince created with Yaz, Depeche Mode, and Erasure. It all sounded so much better when he did it." Jack Antonoff, vierfacher Grammy-Gewinner, u. a. als Produzent von Taylor Swift. JM Jarre hat sich mal ähnlich geäussert. Ich denke Vince muss nicht mehr im Jetzt ankommen, er hat's mit erfunden. Ansonten gute Rezension und super Album.

  • Vor 3 Jahren

    Ich freue mich über jedes neue Erasure Album, bin mit "The Neon" aber noch nicht warm geworden.

    Mir fehlt da ein wenig das alles umspannende Thema und die Dramatik, was ich bei "World Be Gone" sehr spannend fand. Auch die etwas dreckige Produktion (an die ich mich erst gewöhnen musste), passte da prima - das hat mich ein wenig an das immer unterschätzte "Loveboat" erinnert. Nun also wieder alles schön glattpoliert, ok.

    Positiv ist festzustellen, dass Andys Vocal entweder nur sehr dezent oder vielleicht auch gar nicht "korrigiert" wurden, das hat mich seit "Tomorrow's World" genervt.