laut.de-Kritik
Hubba-Bubba-Revolte statt geschwollenem Polit-Mittelfinger.
Review von Kai ButterweckEigentlich standen die Vorzeichen für das dritte Green Day-Album im Jahr 1994 denkbar ungünstig. Zwar pfiff das gehypte Grunge-Genre ein halbes Jahr nach Nirvanas Noise-Stinkefinger "In Utero" bereits auf dem letzten Loch, doch im Windschatten der Flanellhemdträger-Fraktion hatte sich mit Kreuzüber-Horden à la Faith No More, den Red Hot Chili Peppers und Rage Against The Machine längst eine neue Branche den Thron im Rock-Olymp erkämpft.
Mit poppigem Bubblegum-Punk kam man damals nicht weit – schon gar nicht in die Charts. Lediglich der heutige Warner-Chef Rob Cavallo glaubte seinerzeit ganz fest an das Potenzial der drei hibbeligen Kalifornier um Frontmann und Mastermind Billie Joe Armstrong und verschaffte dem Trio gar einen Major-Deal. Die drei Punkrocker bedankten sich bei ihrem neuen Arbeitgeber auf ihre eigene Weise und hielten dem Label (Warner) ihre Gegenleistung unter dem Titel "Dookie" – zu deutsch: "Scheiße" – unter die Nase. Und das nach gerade einmal dreiwöchiger Studiozeit, bei der ganze zwei Tage für die Gesangsaufnahmen verwendet wurden.
Doch während viele andere Musik-VIPs der Band bereits jetzt den Laufpass gegeben hätten, klatschten Rob Cavallo und Co. hingegen begeistert mit den Händen: "Ich hatte schon während der Aufnahmen das Gefühl, dass hier etwas ganz Großes entstehen würde", so der Produzent rückblickend.
Er sollte Recht behalten, denn die knapp vierzig Minuten Punkrock, die Billie Joe Armstrong, Tré Cool und Mike Dirnt innerhalb von drei Wochen eingeprügelt hatten, sollten es wirklich in sich haben. Bis zum heutigen Tage gehen mehr als 15 Millionen Käufer des Albums konform mit der Meinung Cavallos. Songs wie "Longview", "When I Come Around" oder das über allem thronende "Basket Case" zählen auch heute noch zum Standardprogramm einer jeden amtlichen Punkrock-Party von Tokio bis L.A. Desweiteren ebneten sie seinerzeit Bands wie The Offspring, Rancid und später dann Blink 182, Sum 41, Good Charlotte und Co. den Weg ins Rampenlicht.
Mit knackigen Kesselspielereien, gespickt mit haufenweise High-Speed-Fill-Ins, angezerrten Strat-Sounds und Billie Joes Gespür für eingängige Cowboy-Chord-Abfolgen schufen Green Day eine erstmalige Verbindung zwischen Mainstream und Underground, ohne dass sich dabei beide Strömungen auf den Schlips getreten fühlten.
Blitzkrieg-Pop traf auf Schnodder-Rock: Plötzlich verabredeten sich Wohlfrisierte und Ramones-Veteranen zu gemeinschaftlichen Masturbations-Diskussionsrunden auf den stinkenden Toiletten einschlägiger Alternative-Clubs, während sich ihre Frauen auf den Tanzflächen wahlweise beim Pogo ("In The End") oder schunkelnden Händchenhalten ("Pulling Teeth")vergnügten. Punkrock war wieder salonfähig. Selbst MTVs Reißwolf-Coneheads Beavis And Butthead konnten sich dem flockigen "Dookie"-Treiben nicht verwehren. Allein diese Adelung sprach schon Bände.
Zwar huldigten die drei Twen-Punks eher der Hubba-Bubba-Revolte, anstatt mit dem geschwollenem Polit-Mittelfinger zu wedeln, doch das kümmerte selbst die eingefleischtesten Die Hard-Irokesen nur am Rande. Sogar die schnorrenden Alexanderplatz-Punks mixten ihre leiernden Tapes zwischen "Anarchy In The UK" und "Should I Stay Or Should I Go" mit reichlich "Dookie"-Futter.
Green Day brachten mit ihrem dritten Album wieder Farbe ins Business. Die traumatisierte Grunge-Jugend fand auf einmal wieder Gefallen am schnodderigen Rotz des Lebens: "Wir fühlten uns irgendwie dazu berufen, in einer Zeit, in der die Kids nur noch düster dreinblickten, wie eine Abrissbirne zu fungieren, die dieses ganze triste Grunge-Imperium in Schutt und Asche legt", so Billie Joe Armstrong. Ganze 39 Minuten und 41 Sekunden wurden dafür benötigt. Danach war nichts mehr so wie vorher. Welcome To Paradise!
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
63 Kommentare
Ich war ja damals (und bin noch) für SMASH. An Basket Case und When I Come Around kam aber niemand vorbei. Das ist fast 20 Jahre her, ich werde alt...
Bisschen harmlos alles.
...achja...meine erste CD damals...da habe ich sie echt geliebt...Jetzt verbinde ich eher ein nostalgisches Gefühl mit der Platte, was ja auch nicht nur schlecht ist.
Für mich durchaus Meilenstein-fähig die Platte, und das vor allem aus zwei Gründen:
1) Jugenderinnerungen pur, Homepartys mit Freunden, viel zu süssem Alkohol und meine Hand unter dem T-Shirt eines Mädchens, die damals zu Green Day zum ersten Mal in diesen intimen Gegenden operierte.
2) Fand ich anfangs vor allem die von jedermann gemochten Basket Case, When i come around oder Longview gut, verschob sich mein Fokus später auf Perlen wie Burn Out, Chump oder She.
Geht schon in Ordnung.
@MEGAMANMILENIUM (« Green Day haben schlecht angefangen und stark nachgelassen »):