laut.de-Kritik

Die Welt geht unter, aber sterben müssen wir eh alle mal.

Review von

Der "Art Angels"-Ausflug in Pop-adhärente Gefilde ist vorbei; Grimes macht wieder Musik, die kompromisslos durch alle Breitengrade des Genre-Atlas taumelt. Sie muss. Nach medial turbulenten Jahren spürt man dem neuen Album Frust, Isolation und Zweifel an, die durch direkte Konfrontation nicht behoben wären. Stattdessen schweift Grimes auf "Miss Anthropocene" ins große Unbekannte ab: Ein diffus verkopftes Konzeptalbum über eine moderne Dämonologie will sie abliefern. Zurück zu den Rollen, zurück zu den Masken, weg davon, ihre Privatperson zum Epizentrum der Kunst zu machen. Ein Versuch, die Weltuntergangsängste der Gegenwart als Kabinett an Science-Fiction-Schurken aufzustellen. Ein Versuch, die komplizierte Gegenwart gegen alle Überforderung wieder konsumierbar zu machen.

Diese Konzept-Ebene geht vielleicht auf, wenn man jede begleitende Illustration, jedes Video und alle (sich teils widersprechenden) Aussagen in Interviews und Social Media mit betrachtet. Vielleicht geht das Konzept von "Miss Anthropocene" auch überhaupt nicht auf. Das Album ist verworren, verkopft, emotional instabil und in seiner Kreativität zugänglich wie eine Rauchgranate. Vielleicht sollte man "Miss Anthropocene" nicht als Plot-befeuertes Science-Fiction-Opus ansehen. Die Brillanz, die in der Platte zu finden ist, liegt in der fragmentierten Uneindeutigkeit ihrer Gefühle: ein kaleidoskopisches Mood-Board der Postapokalypse.

Statt aus den kaum verständlichen, spärlichen Texten der Songs konzeptuelle Bedeutung zu wringen, lohnt es sich, zu identifizieren, was dieses Album klanglich zusammenhält. Obwohl musikalisch binnen weniger Tracks zwischen akustischem Folk, Drum'n'Bass und Bollywood-Samples geschaltet wird, verwendet Grimes nämlich klangliche Techniken, die "Miss Anthropocene" kohärent machen. Man könnte diese Techniken als musikalische Denaturalisierung bezeichnen, zum Beispiel durch bewusste Übersteuerung, der Infusion von akustischem Schlamm, präsenter Noise-Spuren oder überlagerndem Reverb. Die Songs klingen bewusst überfrachtet, gegrillt, ein wenig kaputt, immerzu begleitet von einem ominösen Wabern einer alles erodierenden Wall of Sound. Das steht in Tradition industrieller Musik, irgendwo zwischen "Endless Summer" von Fennesz und "Untrue" von Burial, wie es auch Lorn oder Yeule in die Jetztzeit übertragen haben.

Damit entstehen Passagen, die in ihrer Ausarbeitung an Pre-"Visions"-Grimes erinnern. Gerade die Opener "So Heavy I Fell Through The Earth" und "Darkseid" betreiben kein klassisches Songwriting, nichts mit Strophe-Chorus-Strophe-Bridge, sondern folgen Ideen von Loop-Musik, die die Texturen der Klänge und Stimmen zu größtmöglichem Effekt ausstellt, wie Grimes es schon auf "Halfaxa" und "Geidi Primes" tat. Ersterer wurde von Illangelo abgemischt und orientiert sich laut Grimes an dessen Beat zu "The Hills". Klingt dementsprechend auch, als hätte Enya auf einem The Weeknd-Song gesungen. Ein eindrucksvoller, destruktiver Vibe, aber gerade bei mehrmaligem Hören können diese Songs Längen aufweisen. Besonders viel passiert eben nicht. Die bräsierenden Synthesizer und dunklen Bässe mäandern ihren Weg durch Wälle aus Echo und Mandarin-Raps von Pan Wei-Ju, nur um alle paar Minuten in einem lichtenden Song-Übergang zu branden.

Ähnlich verhält es sich mit den ausklingenden drei Tracks. "Before The Fever" und "IDORU" hätten in ihrer dekonstruierten Simplizität musikalisch eins zu eins auf "Visions" oder der "Darkbloom"-EP landen können. Manche Fans wird dieser Rückbezug freuen, allerdings wäre es spannend gewesen, wenn sie die Ästhetik mit ihren neu gefundenen Songwriting-Erfahrungen von "Art Angels" ein wenig dichter und direkter gemacht hätte. Hier handelt es sich um ein Stück Stimmung, das man sich erschließen kann, wenn man denn will. Zubewegen wird es sich auf den Hörer nämlich nicht.

Der echte Kern, der Pop von "Miss Anthropocene", findet im Mittelteil statt. Zwischen "Delete Forever" und "My Name Is Dark" zimmert Grimes Volltreffer nach Volltreffer und findet die perfekte Synthese aus ihrer alten und neuen Musik. Beginnend mit dem Indie-Folk-Song "Delete Forever", der mit verzerrten Klampfen-Klängen und einschneidenden Lyrics über PTSD zur Opiat-Epidemie menschlich und demaskiert klingt. Inspiriert vom Tod des Rappers Lil Peep, der die Erinnerung an den ähnlichen Tod alter Freunde wachrief, charakterisiert sie das Gefühl von Taubheit und Verlust. "Funny how they think us naive when we're on the brink/ Innocence was fleeting like a season/ Cannot comprehend, lost so many men/ Lately, all their ghosts turn into reasons and excuses/" singt sie und könnte Heroin und Benzos in der Musikszene genau so wie die Klimakrise meinen.

Das effektive Anschneiden der Universalität von Gefühlen der Überforderung trägt auch die folgenden Songs. "Violence" wurde bereits mehrfach als Song aus Perspektive der Erde erklärt, die sich für die ihr angetane Gewalt an ihren Bewohnern rächt. Doch gerade im Kontext des vorigen Songs wirkt Stimme und Fokalisierung der Sängerin auch wie zum Selbstschutz aufrecht erhaltener Zynismus einer tief verletzten Person, die sich mit einer Romantisierung ihrer Traumata ein wenig Freiheit erringen will. Ein bisschen wie es viele großen Leitfiguren dieser Generation tun, sei es ein Lil Peep oder eine Billie Eilish. Die wörtliche Deutung entpuppt sich als einschneidender als jede Metapher, die Maskenlosigkeit als undurchschaubarer als jede Maske.

Mit "4AEM" und "My Name Is Dark" (auf der Bonus-Edition möge man noch "We Appreciate Power" dazurechnen) gibt es dann noch einmal ein paar Banger in der Tracklist, über die man viel nachdenken kann, aber Gott sei Dank nicht muss, weil sie ohne genauere Zuschreibung ordentlich scheppern. "4AEM" hat nahezu keine Lyrics, dafür einen absurden Wechsel zwischen Grimes-Vocals und an frühen EDM erinnernden Techno-Breakdown mit Bollywood-Vocals. Klingt absurd, aber ist laut, macht Krach und liefert für die richtige Party den richtigen Song. "My Name Is Dark" wurde im Vorfeld schon als das "Kill V Maim" der Platte beschrieben und tut genau das: Ein musikalisch überrumpelnder Power-Trip mit absurd-komischem Mitsing-Chorus und endlosem Wiederhörwert.

"Hands reaching out for new gods/ You can't give me what I want/", so steht die Ballade "New Gods" in der Mitte des Albums wie ein Zwischenfazit und fasst zusammen, was "Miss Anthropocene" dem Hörer anbietet: Alles, nur keine Antworten. Natürlich bietet es keine Antworten. All der Anspruch, all das Konzept scheinen unterm Strich nur Beiwerk für eine emotionale Trance zu sein. Eine Trance aus Taubheit und Überforderung, die zwar gleichzeitig so persönlich und emotional erkundet wird, und doch für das Leben 2020 erschreckend universell erscheint. Es bietet kein Portrait des Popstars als junge Frau, weil Claire Boucher nie das Zentrum ihrer Musik darstellte. Grimes neues Album ist ein transhumanistisches Steampunk-Manifest über das Leben einer anonymen Einzelnen in einer Welt, die sich womöglich zurecht am Abgrund wähnt. Es ist eine Erkundung aller emotionalen und klanglichen Facetten, das die starrende Apokalypse dem Menschen abringen kann.

Trackliste

  1. 1. So Heavy I Fell Through The Earth
  2. 2. Darkseid (feat. Pan Wei-Ju)
  3. 3. Delete Forever
  4. 4. Violence (feat. i_O)
  5. 5. 4AEM
  6. 6. New Gods
  7. 7. My Name Is Dark
  8. 8. You'll Miss Me When I'm Not Around
  9. 9. Before The Fever
  10. 10. IDORU

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Grimes – Miss Anthropocene €13,99 €3,00 €16,98

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Grimes

Hier ist er, der Hipster-Act, der alle mitnimmt. Claire Boucher alias Grimes (*1987) verkörpert eingangs der 2010er Jahre den größten gemeinsamen Nenner …

4 Kommentare