19. Juli 2010

"Radio Thüringen, leckt uns alle mal am Arsch!"

Interview geführt von

Rund 15 Jahre nach ihrem ersten musikalischen Lebenszeichen blicken die Mittelalterrocker von In Extremo auf Millionen verkaufte Tonträger zurück und feiert internationale Erfolge. Nach einem umjubelten Rock im Park-Auftritt feiern sie am 24./25. Juli in Erfurt das große Jubiläumsfest.Anlass genug, um mit Bandchef und Frontman Michael Robert Rhein aka Micha aka Das Letzte Einhorn eine Bestandsaufnahme zu machen. Gut gelaunt und gewohnt leidenschaftlich spricht der Sänger über alte Zeiten, politisches Engagement und die Ignoranz der arrivierten Medien. Am Ende des Gesprächs könnt ihr am großen Gewinnspiel teilnehmen.

15 Jahre besteht die Band nunmehr mit stetig wachsendem Erfolg. Wie sieht denn Dein ganz persönliches künstlerisches Fazit dieser Periode aus?

Micha: Wir haben natürlich unfassbar viel erreicht. Wer hätte das zu Anfang gedacht? Ich ganz persönlich bin sehr, sehr froh, mit den tollen Leuten immer noch Musik machen zu dürfen und von dem, was man liebt, leben zu können. Diese Dankbarkeit ist ein ganz starkes Gefühl.

Wie seid Ihr denn überhaupt auf die - damals noch eher exotische - Idee gekommen, mittelalterliche Musik zu wählen und sie mit Rock zu mischen?

Ehrlich gesagt war das eine reine Kneipenidee.

Tatsächlich? Es hatte also nichts mit anderen Bands wie Corvus Corax zu tun, die vereinzelt schon echten Szeneerfolg hatten?

Nein, nein! Der Eindruck täuscht nun wirklich. In der Anfangszeit von Corvus hatte ich ja auch schon mittelalterliche Musik gemacht. Nur eben nicht auf Tonträgern. Die haben das ja nicht erfunden. Keiner hat es erfunden. Jeder sagt immer: "Hach, das haben die Leute von Corvus erfunden." So ein Schwachsinn! Wie denn auch bitte bei Stücken aus dem 14. Jahrhundert?

Aber wir waren wohl die erste Rocksynthese. Ich spielte so ab 1991 auf den Mittelaltermärkten Musik und hatte nebenbei immer auch eine Rockband. Die hieß Noah. Mit denen hatte ich damals ein Konzert in Berlin. Da habe ich einfach mal die Dudelsackspieler Pymonte und Flex gefragt, ob sie nicht Lust hätten, bei ein paar Songs mitzumachen. Ich fand schon immer, dass bei der reinen Mittelaltermucke mal eine ordentliche Gitarre dazu musste. Und so ist das dann gekommen. Alles ist zu In Extremo verschmolzen.

Was ich Dich schon immer mal fragen wollte: Wie kommt man eigentlich freiwillig auf die Idee, sich als Künstler den Namen "Das Letzte Einhorn" zuzulegen? Das verführt ja geradezu zu Veralberungen.

Da sprichst du so einen Punkt an. Natürlich würde ich mir nie freiwillig so etwas aussuchen und mich so nennen. Das sind alles Spitznamen, die man auf den Mittelaltermärkten bekommen hatte.

Ach was? Da konnte man sich also nicht erwehren?

Wie das bei Spitznamen eben so ist. Ich bitte dich, glaub doch bloß nicht, ich wäre so bescheuert und würde mich selbst "Das Letzte Einhorn" nennen.

Das habe ich mich auch gefragt.

Echt, das ist schon doof genug, wenn mich Leute auf der Straße mit "Hallo, Letztes Einhorn!" ansprechen. Peinlicher geht es doch gar nicht.

Und wie stehst du zu Leuten, die Dir und der Band vorwerfen, das Mittelalter unkritisch zu verfälschen und unverdient zu romantisieren, obgleich die Epoche kulturell eher rückständig und durch Grausamkeit geprägt war?

So etwas interessiert mich überhaupt nicht. Man darf doch nicht verkennen, dass wir unsere Songs im Wesentlichen selbst schreiben und sie mit mittelalterlich angelehnten und echten Melodien verknüpfen. Wir sind einfach eine echte Rockband, die auf mittelalterliches Instrumentarium als Ergänzung zurückgreift. Diese Instrumente werden immer dabei sein, so lange es In Extremo gibt. Ganz egal, wer da was auch immer sagt.

Mit dem "Sängerkrieg Akustik Album" habt ihr meiner Ansicht nach euren bisherigen künstlerischen Höhepunkt erreicht. Gerade auch durch die sensible und stellenweise virtuose Filigranität von Lutter und Pymonte. Ist es nicht schwierig, sich dann wieder auf das krachlederne Gitarrending plus Bierzeltatmosphäre umzustellen?

Ach weißt du, eigentlich ist das gar nicht schwer. Die Akustiksachen mit der jetzt noch mal wegen der immensen Nachfrage drangehängten Tour haben uns wirklich so einen Spaß gemacht, du glaubst es nicht. Da steckte ja auch eine Menge Arbeit drin. Wir haben die einzelnen Songs immerhin Stück für Stück umarrangiert und dem ruhigen instrumentalen Konzept angepasst.

Aber wir sind und bleiben immer noch eine Rockband. Es macht eben auch Spaß, Krach im Proberaum zu machen und dann raus zu Rock im Park zu gehen. Wahrscheinlich macht es einfach der Mix, die Abwechslung.

Wo du es gerade sagst, Micha: Ihr habt zuletzt das heftig rockende Konzert "Am Goldenen Rhein" veröffentlicht. Der Kontrast könnte leider auch qualitativ meiner Meinung nach kaum größer sein. Vor allem Deine Stimme klang stellenweise doch arg ramponiert. Du hast - verzeih den Kalauer - mitunter gesungen wie das letzte Einhorn. Warum veröffentlicht man so etwas?

Naja, da muss man aber sagen, dass der Köln-Gig eben nach 14 Tagen und 14 Konzerten stattfand. Nach so vielen Abenden ist meine Stimme eben schon mal ein wenig angekratzt. Der Mittschnitt war aber schon für Köln geplant. Und da habe ich auch einfach den Ehrgeiz, alles so zu lassen, wie es ist. Das Tondokument ist wahrhaftig und ehrlich. Ich würde niemals hinterher ins Studio gehen und da noch was drübersingen. Das hat so was Authentisches, weißt Du. Das ist im Ergebnis einfach unverfälscht. Das ist mir einfach wichtiger als anderen, die ihre DVDs hinterher im Studio nachbearbeiten.

"Mein Herz schlägt ganz weit links!"

Wie begegnest Du dem Vorwurf, dass die gesamte Mittelalterszene und damit auch Ihr eine gänzlich unpolitische Musikrichtung erschaffen habt - zum Beispiel im Vergleich zu Punkrock? Man könnte ja den Standpunkt vertreten, dies sei in den heutigen Zeiten nicht nur anachronistisch, sondern auch oberflächlich.

Nun, wir sind eben auf der Bühne vor allem Unterhalter. Und die Leute hören den ganzen anderen Kram doch jeden Tag. Da wollen sie doch auch mal richtig abschalten für zwei Stunden auf einem Konzert. Das ist doch nichts Ehrenrühriges. Das braucht man auch mal.

Dennoch fällt es schwer, mir Dich als unpolitischen Menschen vorzustellen.

Das bin ich auch nicht. Wir beschäftigen uns doch auch mit allem möglichen, was in der Welt und unserem Land passiert. Jetzt nimm doch nur mal diese Ölkatastrophe. Da blutet mir echt das Herz. Nur hat das eben nichts mit der Band zu tun. Als Musiker sind wir unpolitisch. Was jeder selbst denkt und macht, ist eine ganz andere Sache.

Die da wäre?

Ich sags dir ganz ehrlich: Mein Herz schlägt ganz weit links! Das kann ich Dir sagen. Das ist einfach meine persönliche Meinung. Folgendes Beispiel: Nach jedem Konzert versteigere ich meine Kostüme. Da kommt wirklich ein Haufen Geld bei raus. Das spende ich an ein paar Familien in Indonesien, die pro Tag nur 'ne Hand voll Reis zu essen haben. Wir sind aber eben nicht die Typen, die sich damit in der Öffentlichkeit brüsten.

Du erwähnst dieses Engagement hier also zum ersten Mal?

So könnte man es sagen.

Dann werden das in ein paar Tagen aber Millionen von Lesern wissen. Jetzt hängt es an der großen Glocke.

Kein Problem.

"Rio Reiser war einer der besten Songschreiber überhaupt"

Abgesehen von Deinen individuell politischen Aktivitäten, wie sieht es denn mit etwaigen Soloplänen in musikalischer Hinsicht aus? Gerade als Frontmann wäre es ja nicht untypisch, derartige Ausflüge zu machen, wie z.B. Eric Fish von den Subway To Sally-Kollegen.

Nee, also so ist das bei mir nicht. Ich bin mit der Band ziemlich ausgelastet. Das ist auch ok so. Ob ich das vielleicht eines Tages irgendwann mal mache, wer weiß? Vielleicht. Aber das steht wirklich in den Sternen.

Hast Du denn auch eigene persönliche musikalische Helden oder Vorbilder ganz abseits der eigenen Kunst?

Oh ja, in Deutschland definitiv Ton Steine Scherben und Udo Lindenberg.

Oh, der gute Rio Reiser? Hätte ich gar nicht erwartet. Passt aber gut, gerade wegen der frühen Parallele, rockige und akustische Konzerte gleichermaßen gebracht zu haben.

Ja, im Ernst: Rio Reiser war einer der besten Songschreiber überhaupt.

Und international?

Institute haben mir gut gefallen. Eine Nachfolgeband des ehemaligen Bush-Sängers Gavin Rossdale. Die Scheibe ist aber leider in Deutschland und Amerika völlig gefloppt. Warum eigentlich? Das war schon sehr gut.

Was ist denn für Eure Zukunft geplant, damit diese kein Flop wird? Was kommt in den nächsten 15 Jahren neues von In Extremo? Kann es konzeptionell immer so weiter gehen?

Immerhin sind wir gerade dabei, an einer Platte zu schreiben, die aber erst 2011 rauskommt.

Und die klingt dann auch wie immer?

Das kann ich nicht vorhersagen. Wir machen niemals ein Konzept. Jeder hat seine Ideen zum anstehenden Zeitpunkt. Und was herauskommt, kommt eben dabei heraus. Wir ändern uns weder zwanghaft, noch sperren wir uns gegen neue Sachen und Einflüsse. Du wirst das dann ja hören. Und dann werden wir 2011 eben komplett auf Tour im In- und Ausland sein. 2012 wollen wir dann aber auch mal ein halbes Jahr oder etwas länger Pause machen. Das brauchen wir dann auch mal.

Wo Du gerade die Tour erwähnst: Es ist ja auffällig, dass Ihr fast so viele Live-Scheiben veröffentlicht habt wie Studioalben. Warum immer diese überbordende Live-Dokumentation?

Das liegt wirklich nur an der Nachfrage. Es gibt hunderte und tausende von Mails, in denen die Leute fragen, ob man dies oder jenes nicht als CD oder DVD erwerben könne. Bei einem Gig von der Akustik-Tour überlegen wir jetzt auch wieder, ob wir das veröffentlichen. Das war der Knaller mit einer Stimmung, die man sich kaum vorstellen kann. Die Bühne sah aus wie ein Wohnzimmer und so weiter und sofort. Das war schon was Spezielles.

Euer immenser Erfolg ist in der Tat erstaunlich. Ihr gehört wohl unbestritten zur Spitze der deutschen Rockpyramide. Gleichwohl herrscht in der sogenannten seriösen Presse und dem Feuilleton echte Totenruhe. Ihr werdet ignoriert und findet vornehmlich in den Hofberichterstattungen der Gothic- und Metal-Postillen statt. Das muss doch auf die Nerven gehen, oder?

Ja, da hast Du recht. Das ist manchmal schon schwer. Aber mittlerweile lächeln wir nur noch darüber. Nimm doch nur unser Jubiläumsfestival in Erfurt. Da haben wir es als Band geschafft, 13.500 Karten zu verkaufen. Das schaffen manch große Festivals teilweise nicht. Alle Zeltplätze und Hotels sind seit Monaten ausgebucht. Und die Stadt selbst interessiert das alles nicht.

Ebenso der Sender Radio Thüringen. Für die haben wir bei Raabs Bundesvision Song Contest seinerzeit den dritten Platz gemacht. Und weißt Du was? Die spielen uns nicht! Das kann man wirklich mal laut in die Welt reinrufen: "Leckt uns alle mal am Arsch!" Und ich weiß doch, wenn jetzt 13.500 Leute da aufmarschieren, werden die auch ihre Leute mit Kameras und Mikros dahinschicken. Aber die werden alle kein Interview von mir bekommen!

Um so schöner, dass wir hier heute so ein angenehmes Gespräch führen. Da darf sich laut.de ja privilegiert fühlen.

Nee, ich meine das wirklich ernst. Das ist einfach eine Schande! Bei so einem Event! Wir haben da wirklich ein Dreivierteljahr dran gearbeitet, um alles auf die Beine zu stellen. Wir stellen der Stadt Erfurt einen komplett mittelalterlichen Markt zur Verfügung, der für alle Bürger kostenlos ist; egal wo sie herkommen. Quasi als Geschenk dafür, dass sie sich so herzhaft um uns gekümmert haben.

Ist doch auch schön, wenn man die Unabhängigkeit hat, solche Sachen allein auf die Beine stellen zu können.

Oder solche Sender wie MTV oder Viva. Da ist es uns auch komplett egal, ob die uns spielen. Ich meine, das sind ja keine Musiksender mehr. Da laufen ja nur noch irgendwelche Comic Porno-Sachen. Wie gesagt: Wenn sie uns spielen, freuen wir uns. Wenn nicht, ist es auch egal.

Das große In Extremo-Gewinnspiel. Zur Feier der großen Konzert-Sause in Erfurt verlosen wir folgendes Paket:

2x2 Tickets für das Festival "Wahre Jahre" am 23. und 24. Juli in Erfurt
2x Signiertes In Extremo-Buch "Spielmannsfluch"
2x signierte limitierte "Sängerkrieg"-CD-Album-Editionen inkl. T-Shirt (wahlweise in L oder XL)

Schickt einfach eine Mail an gewinnen@laut.de mit dem Subject "Wahre Jahre" und beantwortet folgende Frage: Welcher Band mussten In Extremo beim Bundesvision Song Contest 2006 am Ende den Vortritt lassen?

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