laut.de-Kritik
Die anspruchsvolle Antwort auf Tropical House.
Review von Michael SchuhMitglied der Electro Pop-Könige Hot Chip, Gründer des Labels Greco-Roman (Roosevelt, Disclosure), Grammy-dekorierter Remixer (Kraftwerk, Jessie Ware): Joe Goddard muss man nicht mehr vorstellen. Irgendwie aber doch: Denn unter seinem eigenen Namen ist er lange nicht so vielen Menschen bekannt, wie es eigentlich sein sollte, zumal sein erstes von vorne bis hinten durchkonzipiertes Soloalbum namens "Electric Lines" ein frühes Album-Highlight in 2017 darstellt.
Wer stilsichere Festivals in Barcelona besucht oder sich an sonst einen Platz mit Meeresrauschen im Hintergrund träumen möchte, legt diese Platte auf. Goddard ist Assoziationskünstler, seine Tunes führen einen an andere Orte, so wie es das Credo guter Tanzmusik seit jeher einfordert. In Zeiten, wo das Dance-Verständnis der Mainstream-Clubgänger von Felix Jaehn oder Alle Farben indoktriniert wird, kann man es nicht oft genug sagen: Losgelöstes Sunshine-Feeling geht auch ne Ecke anspruchsvoller als der einschläfernde 4/4-Kickdrum-Tropical House.
Mit "Home" legt Goddard eine astreine Feierabend-Hymne vor, die natürlich vom Soul-Timbre des amerikanischen Gastsängers Daniel Wilson sowie dem 70s Disco-Sample der US-Funkband Brainstorm lebt. Ein Deep House-Track, dessen Vielschichtigkeit auch beim 20. Mal begeistert.
Doch es muss nicht immer zwingend der Club oder Dancefloor sein: Betont sanft öffnet der Brite die Pforten zu seiner Pop-Wahrnehmung mit "Ordinary Madness", lässt UK-Garage nur entfernt anklingen und vertraut ansonsten völlig zurecht der unwiderstehlichen Stimme der Londoner Songwriterin Jess Mills, die für einen perfekten Albumstart sorgt. In "Lose Your Love" blitzt ebenfalls 70er Disco auf, "Lasers" hofiert als Instrumental den Robot-Walk von Kraftwerk, bevor die alte Partnerin Valentina ("Gabriel") mit "Human Heart" romantischen Synthiepop veredelt. Goddards Hot Chip-Kumpel Alexis Taylor hat dagegen das Problem, gegen den gewaltigen Back Catalogue anzusingen, weshalb sich der Titeltrack "Electric Lines" eher unauffällig ins Gesamtbild einfügt.
Das schon vorab ausgekoppelte "Music Is The Answer" überstrahlt dieses Album, zeigt der Track doch abermals Goddards Kunst, ein Sample (hier: Celedas/Danny Tenaglia "Music Is the Answer - Dancin' & Prancin'" von 1998) in eine völlig neue, in seinem Fall melancholische Atmosphäre zu überführen. Sängerin Mills und Goddard teilen sich hier den Gesang.
Das in der Albummitte sozusagen als Gipfelstück platzierte "Children Of The Sun" ist ein atmosphärischer Monstertrack: Ein schiebendes Stück Psychedelic-Techno, wie man es vor langer Zeit von den Chemical Brothers erwartet hätte. Sogar Igor Cavalera durfte hier Drumparts einspielen (auch wenn man die nicht bewusst erkennt). Dass Goddard beim Aufbau der Dynamik an Caribou dachte, verwundert ebenso wenig.
"Ich suche immer den Soul und das Herz in der Musik. Gute Popmusik ist für mich feierlich und episch, gerne auch cheesy bis zu einem gewissen Grad", erzählte der Produzent in einem Interview und definiert damit gleichsam die Faszination von "Electric Lines".
1 Kommentar
Starkes Album. Läuft bei mir seit Tagen rauf und runter und wird nicht langweilig.