laut.de-Kritik

Zumindest eine glaubt noch an Popstars.

Review von

Popmusik ist 2019 seine eigene Nische. Pop dominiert nach wie vor die Welt, aber der Modus Operandi des Popstars hat sich in Tagen von Stan-Kultur, Internet und Soundcloud extrem verändert. Während sich die Taylor Swifts und Katy Perrys immer mehr den Halseys und Billie Eilishs geschlagen geben, herrscht in anderen Breitengraden immer noch der Wunsch, dem Pop einen queeren Glamour abzuringen. Ein Star, ein Main Pop Girl zu sein.

Kim Petras verkörpert diese Sehnsucht deutlicher als jeder andere Indie-Darling-Pseudo-Popstar. Vage assoziiert mit dem Umfeld von PC Music hat sie nichts von der Subversion von Pop-Tropen, die Künstler wie Dorian Electra oder Charli XCX so beißend machen. Auf "Clarity" vollzieht sie eher den letzten Schritt einer Rache der Mädchenhaftigkeit.

"Clarity" bekennt sich zu allem, was die letzten zehn Jahre Popkultur aus dem Zeitgeist verbannen wollten. Jeder kennt inzwischen die Szene aus den Simpsons, in der Lisa ihre Malibu Stacy-Puppe aufzieht, eine substanzielle Antwort erwartet und letztlich nur ein "Don't ask me, I'm just a girl" zu hören bekommt. Kim Petras will wohl Advokatin dieser Puppe sein, so schamlos nimmt sie all die Tropen an, die Frauen in der Popmusik immer wieder begegnen.

Heißt konkret: Über die Laufzeit ihres zweiten Albums begibt sie sich bis an die Schmerzgrenze des Melodramas, strapaziert gelebte Oberflächlichkeit bis zum Maximum aus und überzeichnet kunstlosen Hedonismus bis ins Cartoonhafte. Songs wie "Clarity" oder "Icy" lechzen nach Diamanten, "Do Me" und "Sweet Spot" sind unapologetische Sex-Jams, "Meet The Parents" und "Got My Number" nahezu alberne Megastar-Fantasien.

Es hat etwas bewusst anti-intellektuelles, mit dem sich Kim Petras zu ihrer Fantasie des Popstars bekennt. Es ist Pop als Ästhetik, eine Form, die ihren Inhalt rechtfertigen soll. Hört man sich quer, kann man dieses Projekt durchaus so anerkennen. Es funktioniert, wenn die Leere der Verses in die umso glänzenderen Hooks umschlagen, wenn die modernen Beats mit Interpolationen von Trap und EDM eklektische Klangfarben auffahren. "Icy" klingt ein bisschen nach der Bassline, die Daft Punk für The Weeknds "Starboy" geschmiedet haben. Und es klingt beeindruckend dicht.

Da ist die logische Konsequenz, dass Kim sich nicht in die Pflicht nehmen lässt, woke zu sein. Dann ist sie eben die erste Transfrau, an der eine geschlechtsangleichende Operation durchgeführt wurde. So what? "Clarity" macht deutlich, dass sie niemandem irgendeine Rechenschaft schuldet. Wer deswegen hier ein großes Manifest für die LGBTQI-Community erwartet, wird deshalb enttäuscht. Für ihre Vision eines geradlinigen Pop-Albums ist dies aber abgeworfener Ballast. Macht die Frage, ob man nach den Missbrauchs-Vorwürfen durch Kesha noch mit Produzent Dr. Luke arbeiten sollte, zwar nicht leichter, fügt sich aber gut ins Bild ein.

Besonders interessant wird es, wenn sich Kim dann in diesem Modus an die düstere Seite der menschlichen Emotionspalette wagt. "All I Do Is Cry" entzieht sich jeder Verantwortung, den Hörer aufzuklären, was sie denn so traurig macht. Sie ist traurig, weil das ihrem Selbstbild so in den Kram passt. Sie hört auf, traurig zu sein, wenn es wieder etwas zu ballen gibt. Dieser Ausschluss des Tiefgangs versteckt sich aber so unmittelbar im Sichtfeld, dass man ihr beim Hören wieder fast eine direkte Subversion dessen unterstellen will.

Kurz gesagt: "Clarity" von Kim Petras ist so oberflächlich, dass man dem die Oberflächlichkeit kaum noch glauben mag. Es ist so naiv, dass es zynisch sein muss. Noch dazu verkörpert es genau das, was man sich unter einem Popalbum vorstellt. Heißt in der Summe: Viel Melodrama, viel zu knabbern und doch wenig Substanz. Heißt aber nicht, dass "Clarity" nicht ein verdammt interessantes Projekt wist.

Trackliste

  1. 1. Clarity
  2. 2. Icy
  3. 3. Got My Number
  4. 4. Sweet Spot
  5. 5. Personal Hell
  6. 6. Broken
  7. 7. All I Do Is Cry
  8. 8. Do Me
  9. 9. Meet The Parents
  10. 10. Another One
  11. 11. Blow It All
  12. 12. Shinin'

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