laut.de-Kritik
Die erlösende Flasche Jack Daniel's ist nie weit entfernt.
Review von Giuliano BenassiSelbst im hintersten pakistanischen Terroristennest dürfte bekannt sein, welche Feier am 24. Dezember stattfindet. Für Motörhead-Fans bot sich an jenem Tag 2005 ein weiterer Grund zur Freude: Bandchef Ian Fraser Kilmister wurde unglaubliche 60 Jahre alt. Die richtige Gelegenheit, eine üppige Retrospektive wie "Damage Case" auf den Markt zu bringen.
Allgemein als Lemmy bekannt, hat der Bassist und Sänger eine ereignis- und abwechslungsreiche Karriere hinter sich. Sie beginnt 1965 als Gitarrist bei den Rockin' Vicars, einer Band aus dem englischen Blackpool, die sich an die Beatles anlehnt. Jedenfalls hört sich "It's Alright" wie eine schlechte Version von "I Saw Her Standing There" an. Insgesamt wohl zu einfallslos für Lemmy, der 1968 in die Combo des Tabla-Spielers Sam Gopal ans Mikrophon wechselt. Zwar besitzt seine Stimme noch nicht die Rauheit von Millionen gerauchter Marlboros, aber der angestrengte Ton ist bereits jetzt sein Markenzeichen. Nicht nur der Titel "The Dark Lord" lässt erkennen, dass Black Sabbath einen Einfluss ausüben.
Doch das sind nur Episoden. 1972 heuert Lemmy bei der chaotischen Space Rock-Band Hawkwind an und erreicht den ersten Höhepunkt seiner Karriere: "Silver Machine" erobert in Großbritannien Platz drei der Singlecharts. Bevor er 1975 an der kanadischen Grenze mit Amphetaminen erwischt wird und aus der Band fliegt, schreibt er noch das Lied, das seine zukünftige Karriere bestimmen wird: "Motörhead".
Das Stück an sich hinterlässt kaum eine Spur, aber es liefert immerhin den Namen für seine zukünftige Gruppe. Im selben Jahr nimmt sie ihr erstes Album "On Parole" auf, das aber erst 1979 erscheint. Der Auszug "Iron Horse/Born To Lose" besitzt schon den typischen Motörhead-Sound: Bass und Gesang, Gitarre, Schlagzeug, das alles am Ansatz und ohne Schnörkel. Wie Lemmy später in einem Interview sagen wird: "Ein Gitarrenriff sollte nie länger sein, als es dauert, eine Bierflasche zu köpfen".
Als "Damage Case" und das Album "Overkill" 1979 auf den Markt kommen, ist Lemmy ein gefragter Mann. Mit der Punk-Band The Damned nimmt er zwei Stücke für deren Album "Machine Gun Etiquette" (1979) auf und mit der Headgirl-Nummer "Please Don't Touch" erreicht er Platz 5 der Singlecharts. Der Bandname stellt sich zusammen aus Girlschool und, klar, Motörhead. Noch unwahrscheinlicher gerät die Zusammenarbeit mit Bob Young (Status Quo) und Mick Moody (Whitesnake). Dass er gut mit dem weiblichen Geschlecht kann, zeigt Lemmy beim Intermezzo mit der Sängerin der Plasmatics, Wendy O' Williams, wohl eine der wenigen Frauen, die noch extremer drauf waren als er selbst. Die trashige Version von Tammy Wynettes "Stand By Your Man" ist ein wahrer Genuss.
Ab den 80er Jahren ist Lemmy fast ausschließlich mit seiner Band unterwegs, lässt es sich aber nicht nehmen, ab und an aus dem "Ace Of Spades"-Schema auszubrechen. Etwa mit "1916", seiner musikalischen Interpretation des Ersten Weltkriegs, die ganz ohne Verzerrer auskommt. Ein Veteran habe beim Anhören des Liedes geweint, weil es ihn an damals erinnert hätte, erzählte Lemmy einst in einem Interview. Nimmt man ihm gerne ab.
Lemmy legt auch gerne seine Liebe für den Rock'n'Roll an den Tag, erst bei einer Zusammenarbeit mit dem englischen Gitarristen Mick Green (Johnny & The Pirates), dann mit Slim Jim Phantom (Stray Cats) und Danny B. Harvey. Behandeln sie Johnny Cashs "Big River" noch mit Ehrfurcht, erfährt Carl Perkins' "Blue Suede Shoes" eine Reise durch den Fleischwolf.
"R.A.M.O.N.E.S." ist eine Hommage an die New Yorker Band, die Lemmy natürlich gemeinsam mit ihr aufnimmt. Huldigungen erfahren auch Metallica ("Enter Sandman") und Iron Maiden ("The Trooper", mit Bandkollege Phil Cambell, Chris Slade von AC/DC, Rocky George von Suicidal Tendencies und Chuck Wright, der mit Alice Cooper spielt). Doch auch Lemmy selbst wird gehuldigt – etwa von Dave Grohl auf seinem Hommage-Album "Probot" (2004).
"Thirsty And Miserable" fühlt sich Lemmy in einem der letzten Stücke der Retrospektive. Doch die erlösende Flasche Jack Daniel's ist zum Glück nie weit entfernt. Schlechter steht es um den Hunger der Fans auf die nächste Tour, und vielleicht sogar ein neues Album. Doch das Gute ist: Beide werden bestimmt kommen. Lemmy, keep on rockin'!
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