9. September 2004

"Grönemeyer verkörpert Authentizität"

Interview geführt von

Stockhausen?! Klingelingeling. Diesen Namen hat man schon mal gehört! Seit 1950 mitbestimmt Karlheinz Stockhausen den Werdegang der zeitgenössischen Klassik und ist wesentlich dafür verantwortlich, Geräusche jeder Art als musikalische Aktion zu etablieren. Dieses in jede Richtung offene Denken erweitert auch das Bewusstsein seines Sohnes, Markus Stockhausen. LAUT trifft den Trompeter, kurz bevor er im sommerlichen Allensbacher Wald ein Solokonzert spielt.

Markus, du gibst heute Abend ein Solo-Konzert im Wald! Das ist eine sehr außergewöhnliche Location. Was hat es damit auf sich?

Es geht darum, Musik in einer ungewohnten Umgebung zu präsentieren. In diesem Fall war es eine Idee der Veranstalterin. Dadurch kommen ungeahnte Qualitäten zum Vorschein. Man muss sich ganz auf die Situation einstimmen. Der wichtigste Faktor dabei ist die Zeit. Die Musik entsteht für diesen Ort, für diese Menschen und für diesen Moment. Eine Musik im Hier und Jetzt. Ich nenne das "intuitive Musik".

Was meint "intuitive Musik"?

Der Begriff wurde in den 60er Jahren von meinem Vater geprägt. Damals hat er Textstücke geschrieben, nach denen die Musiker zu improvisieren hatten. Er wollte damit erreichen, dass die Musiker sich auf die augenblickliche Situation einlassen und aus ihr heraus Musik 'erfinden', ohne auf die gängigen Klischees zurückzugreifen. Ich habe diesen Begriff übernommen, weil ich ihn sehr treffend finde. Ich versuche also ganz meiner Intuition zu folgen. Dem, was sich in mir zeigt, nachzugehen und ihm einen musikalischen Ausdruck zu verleihen. Ich folge dabei meinem inneren Gefühl und höre die Töne voraus, eigentlich ähnlich einer Partitur mit Noten. Nur weiß ich dabei nicht, wie sich das Ganze entwickelt oder wie es enden wird. Die Wahrnehmung des Ortes und der anwesenden Menschen spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Es geht darum, diese spezielle Qualität wahrzunehmen, Verbindung aufzunehmen und zu erspüren, was im Augenblick angesagt ist, um dem Ausdruck zu geben. Ich unterscheide dabei zwischen Improvisation und Intuition....

... das ist auch meine nächste Frage. Du beschreibst etwas, das im Jazz Gang und Gebe ist - das Erfinden von Musik aus der Situation heraus. Dort heißt dieses Gebaren Improvisation. Wo verläuft also die kleine aber feine Grenze zwischen intuitiver Musik und Improvisation?

Improvisation ist für mich eine Variation, eine Weiterentwicklung von bekanntem oder gewähltem Material. Man hat ein z.B. ein Thema und entwickelt es weiter, improvisiert darüber. Man spricht in der Jazzimprovisation eine bestimmte Sprache, wie etwa im Free Jazz der 60er Jahre. Dort ging es darum, keine Harmonie zu spielen, keinen festgelegten Rhythmus. Man hat sich anarchisch gegen alles gewehrt. Dadurch ist wieder ein neues und typisches Klischee entstanden. Über alle stilistischen Vorgaben hinaus zu gehen und sich in etwas Unbekanntes hineinzubegeben ist das Vorgehen bei intuitiver Musik. Dass die Grenzen zwischen Improvisation und intuitiver Musik fließend sind, ist mir vollkommen klar. Auch in intuitiver Musik gibt es natürlich Bezüge zu bekanntem oder schon gehörtem Material. Aber der Fokus ist ein anderer. Der Begriff intuitive Musik ist auch als Hinweis für das Publikum zu verstehen, dass es sich nicht um ein herkömmliches Jazzkonzert handelt. Es ist etwas, das den Augenblick in seiner Unvorhersehbarkeit mit einbezieht.

Es geht also um die bewusste Bereitschaft, sich auf den Moment einzulassen. Das stellt sehr große Anforderungen an dich, und es besteht die Gefahr der Langeweile, wenn es misslingt. Wie begegnest du dieser Gefahr?

Ganz einfach. Wenn es mir selbst langweilig wird, muss ich was ändern. Meine eigene Wahrnehmung ist dabei die Richtschnur. Wenn ich z.B. spüre, dass mir die Konzentration entgleitet, oder die Leute wegdriften, muss ich etwas in meiner Musik verändern. Normalerweise bekommt man das mit. Die Leute fangen an zu husten oder sie gehen raus. Man spürt das sehr genau. In solchen Situationen läuten bei mir die Alarmglocken und ich muss mich noch stärker konzentrieren, damit die Energie kohärent ist. Außerdem haben diese Konzerte viel mit Stille zu tun. Ich glaube, dass Stille ganz erfüllt sein kann. Besonders im Wald. Die Zwiesprache zwischen der Musik und den Geräuschen des Waldes - Vögel, Wind, knackende Äste ... . Das Spannende daran, in der Natur Musik zu machen, ist, dass die Wahrnehmung geschärft und erweitert wird. Nicht nur für mich als Spieler, auch für das Publikum. Es wird dabei mehr in das Konzert miteinbezogen. Die gesamte Umgebung spielt dabei eine Rolle. Ich glaube nicht, dass dabei schnell Langeweile aufkommt.

Willst du die Leute sensibilisieren für die Stille, die Umgebung, den Raum? Was ist deine Message?

Das Gute, das Wahre, das Schöne, dem fühle ich mich verpflichtet. Das ist, was der Mensch im Grunde sucht. Diese Dinge tragen wir als Hoffnung und Ziel in uns, darauf richte ich mich in meiner Vorbereitung aus. Natürlich versuche ich, den Zuhörer letztlich zu sich selbst zu führen. Aber oft sind wir verbaut durch Ängste, Stress und Gedanken, die uns weg bringen vom Eigentlichen. Jeder trägt Liebe, Glück und Schönheit in sich. Das ist ja eigentlich immer da, in jedem von uns. Die Musik kann helfen - so meine Erfahrung - dorthin zu gelangen. Dazu genügt unter Umständen ein einziger Ton, der das Tor öffnet. Manchmal ist auch die Stille nach der Musik noch viel echter und wichtiger als der Ton selbst. Dann war er nur eine Vorbereitung. Die Musik dient dabei als Transportmittel. Diesen geheimnisvollen Prozess kann man nicht genau bestimmen und benennen.

Der Unterhaltungsaspekt steht dabei offensichtlich nicht im Vordergrund.

(lacht)

Du zählst als Künstler zum Bereich der sogenannten ernsten Musik (E-Musik). Wie ernst nimmst du Popmusik?

Je banaler Musik konstruiert ist, umso weniger interessiert sie mich. Es gibt auch Popmusik mit guten Texten und schönen Melodien, wo man gerne hinhorcht. Aber es ist keine Musik, die ich viel höre.

Beim wem horchst du hin?

Ich habe z.B. einen Freund von früher, Herbert Grönemeyer. Auf einer oder zwei seiner CDs bin ich auch dabei. Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst verkörpert er für mich Authentizität. Seine Texte besitzen Tiefe. Das finde ich beachtlich. Aber ich höre sehr sehr wenig Popmusik, deswegen ist das für mich eine schwierige Frage.

In den Ohren von Popmusikkonsumenten kann deine Musik sehr irritierend wirken. Hast du einen Tipp, der den Zugang erleichtert?

Ja, wenn man nichts anderes nebenher macht (schmunzelt). Meine Musik ist für den Hintergrund nicht gut geeignet. Dort funktioniert sie nicht. Es ist ein Raum, der sich erst öffnet, wenn man rein geht.

Du bewegst du dich zwischen Jazz, Avantgarde und zeitgenössischer Klassik. Verlierst du dich manchmal in dieser Vielseitigkeit?

Es hat sich reduziert, weil ich kaum noch interpretiere. Ich will das Wesen der Musik erspüren, die ich in mir trage. Ich habe in letzter Zeit sehr viel abgelehnt, was mich weggeführt hätte. "Will ich das wirklich machen?" ist die zentrale Frage. Das Nein-Sagen habe ich mir schwer angewöhnen müssen.

Auch zur gemeinsamen Arbeit mit deinem Vater hast du "Nein" gesagt ...

Ich habe 2001 entschieden, die Zusammenarbeit erst mal zu beenden, weil ich meinen eigenen Weg gehen wollte. Aber wer weiß, was kommt ...

Ich bin am überlegen, ob ich dir die Standardfrage stellen soll ...

... ich habe darauf eine Standardantwort ... (lacht)

Wie fühlt man sich als Sohn eines Vaters, dessen Musikschaffen meterweise Musikbände füllt?

Ich fühle mich als Sohn meines Vaters (lacht). Aber im Ernst, es ist für mich Chance und Verpflichtung gleichermaßen. Eine Chance, weil ich sehr viel von ihm gelernt und gezeigt bekommen habe. Und eine Verpflichtung, was die Qualität betrifft. Dass man etwas weiter führt, was einen ernsthaften - nicht ernsten - Anspruch hat. Echt, integer und authentisch zu sein und Qualität zu liefern sind meine Ansprüche an mich selbst.

Was verdankt dein Vater dir?

Ich hoffe Einiges (lacht). Ich habe natürlich in seinem Werk viel ausgelöst. Er hat in der Oper "Donnerstag aus Licht" die großen Partien der Trompete für mich geschrieben. Ich habe bei "Sirius" intensiv mitgewirkt. Ich denke, es hat für ihn so gestimmt wie für mich, sonst hätte er nicht für mich komponiert.

Du spielst ein selbstkonstruiertes Instrument. Eine Vierteltontrompete.

Die habe ich heute nicht dabei. Es ist ein Viertelton-Flügelhorn. Es gab vorher schon eine Viertelton-Trompete, die Don Ellis in den 60er und 70er Jahren spielte. Ich habe mein Instrument bei "Pietà" aus der Oper "Dienstag aus Licht" verwandt. Mein Vater war immer an Mikrotönen interessiert.

Wozu braucht die Welt Vierteltöne?

Wozu braucht die Welt Mikrochips? Alles geht immer mehr in den Mikro- und Nanobereich. In der Musik liegt es nahe, dass eine Oktave nicht zwingend in 12 Töne unterteilt werden muss. Beim Experimentieren stellt man allerdings grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten fest. Eine Quinte oder eine Oktave ist nach wie vor ein Intervall, das dem Menschentypus entspricht. Die Proportionen der reinen Intervalle - Stichwort Pythagoras - sind Urgesetzmäßigkeiten, nach denen unser Universum gebaut ist. Wir haben dazu eine Resonanz und empfinden sie als schön. Das hat einen bestimmten Grund.

Warum empfinde ich eine Rose als schön? Weil sie bestimmte Gesetzmäßigkeiten verkörpert, die in mir ruhen. Wir tragen bestimmte proportionale Verhältnisse in uns und empfinden ähnlich gestaltete Dinge als schön. Deswegen erkennen wir auch schöne Musik als schön. Es gibt ja eine gewisse Objektivität in der Schönheit. Wenn viele Leute sagen, etwas sei schön, ein Gebäude, eine Blume oder ein Mensch beispielsweise - natürlich mit unendlich vielen Differenzierungen, man weiß ja nie, ob der andere sieht, was ich sehe, dann kann man davon ausgehen, dass es so ist.

Hat nicht Johannes Kepler mal gesagt: nur wenn etwas schön ist, kann es auch wahr sein?

Ich hab vor Kurzem etwas gelesen, das hat mir sehr gefallen: "Alles Wahre ist schön. Aber nicht alles Schöne ist wahr."

Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Kai Kopp

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Markus Stockhausen ist der Sohn von jenem Mann, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Werdegang der zeitgenössischen Klassik mit definierte.

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