Nach einem guten Auftakt mit Wet Leg begeistert Styles seine vielen jungen Fans, und ein Typ namens Simon wird zum Verlierer des Abends.
Düsseldorf (rnk) - Indie wurde irgendwann zu einer repetitiven Langweiler-Show mit den langweiligsten Zitaten und den schlechtesten Retro-Frisuren der 70er, 80er und 90er. Eine Ausnahme waren schon im vergangenen Jahr Wet Leg, die in diesem Jahr mit Harry Styles bei den Brit Awards abräumten.
Die Grenzen verschwimmen
Zwei Konsens-Lieblinge, die jeweils in dem anderen Genre eine große Wertschätzung genießen. Die endgültige Gentrifizierung von Indie grummelten dagegen einige, die schon Taylor Swifts Kooperationen mit The National oder Haim als geschickte Promo-Vereinnahmung kritisierten. Die Grenzlinien verwischen seit Jahren stetig mehr, ebenso schwinden die Berührungängste. Vielleicht dann doch eine Errungenschaft unsere Zeit, dass der sackdämliche 'peinliche Lieblingssong' ähnlich wie das Adjektiv 'ironisch' langsam aber sicher das Zeitliche segnen. "As It Was" oder "Sign O The Times" waren zu gute Produktionen, um sie nicht in die Playlist neben Aphex Twin oder 100 Gecs zu schieben. Und wer bis dahin noch argwöhnte, stieß auf begeisterte Berichte von Harrys Liveshows. Auch Freunde, die einst noch gegen den bösen Mainstream wetterten, berichten hier regelmäßig von wahrhaft Großem.
Das sehr junge Düsseldorfer Publikum zeigt sich bei Wet Leg und deren Indie-Hits wie "Chaise Longue" dann aber überraschend textsicher. Überhaupt steht alles unter dem Motto "kindness" - wie stimmt Harry Styles so hoffnungsvoll an: "Maybe we can find a place to feel good / And we can treat people with kindness / Find a place to feel good". Ein Motto, das der Loveparade auch gut zu Gesicht gestanden hätte, genauso wie dem Outfit vieler Fans gestern Abend in der Merkur-Spiel-Arena. Diese sehen aus, als wäre die Techno-Veranstaltung nie im Kommerz und einer Tragödie geendet. Herzförmige Brillengläser, Federboa und alles was irgendwie nach bunter 70er-Retro-Party aussieht: Getreu dem Stil ihres Idols, das diesen Look zurückbrachte.
Wie einst Robbie Williams
In der kurzen Pause nach Wet Leg, die wirklich sehr gut aufgenommen wurden, schaut man aus dem Fortuna-Stadion nach oben und bemerkt Flugzeuge. Das laute Gekreische des überwiegend weiblichen Publikums dürfte kaum unter der Dezibel-Zahl des Airbusses liegen. Gäbe es eine Möglichkeit, Laustärke in Energie umzuwandeln, wäre ein Harry Styles-Konzert ungefähr drei Atomkraftwerke stark.
Der alte Mann in mir überlegt, ob einem das nicht alles sehr bekannt vorkommt. Wie war das noch mit Robbie Williams, der ähnlich wie Styles seine Boygroup verließ und eine noch erfolgreichere Solokarriere hinlegte? Auch er war in den Nullerjahren ein Konsens-Star, auf den sich viele einigen konnten. Fast wie bestellt, tönt etwas später "Angels" aus der Playlist, im weiten Rund singt nahezu jeder mit. Auch "Toxic" von Britney Spears steht weit oben in der Gunst. Bei Travis und The Darkness herrscht dagegen eher Ruhe, während bei "Bohemian Rhapsody" noch mal jeder einstimmt.
Harry Superstar
Dann kommt endlich der Moment, auf den alle gewartet haben: Harry Superstar betritt die Bühne in einer erstaunlich glänzenden Hose. Auch hier müsste man den Superlativ für glänzend noch mal neu definieren. Der Lärmpegel beim Intro "Daydreaming" perforiert mein Trommelfell - neben mir sitzen zwei Fans aus Holland, die jedes Wort weinsingmitschreien. Motörhead am Arsch, ich kann mich nur noch an den Lippenbewegungen der Damen neben mir orientieren. Kurz danach fragt Harry, ob alles gut sei, und dass man das Konzert jederzeit unterbrechen könne, wenn etwas passiere. Ich möchte den Arm heben und Bescheid geben, aber er würde es nicht mitkriegen.
Das ist alles sehr lieb, muss man einfach zugeben. Der Mann kann Stadion, beherrscht mehrere Instrumente und abgesehen von einer LED-Wand von der Größe Islands sowie der zehnköpfigen Big Band wird auf die üblichen Tänzer:innen verzichtet. Ein erfreuliches Novum, zumal der Blick in den Innenraum zeigt, dass die Fans ihre eigenen Tanzmoves mitbringen. Ein perfekt produzierter Funk-Stampfer wie "Cinema" könnte so auch von Kool & The Gang stammen und reißt wirklich jeden mit. Styles ist eine Bühnenperson mit viel Charisma, er hat seine Band und auch die 60.000 Fans im Griff.
"Alle guten Dinge passieren in der Disco, oder"
In einer kurzen Pause geht er auf die Fans in der ersten Reihe zu und liest deren kreativen Plakate ab. Schade, das Song-Quiz sieht er nicht, dafür aber ein Mädchen, die von ihrem Freund an ihrem 18. Geburtstag betrogen wurde: Die berechtigte Schimpftirade überlässt Harry aber dem Publikum, das im Brustton der Verachtung ein "Fuck You, Simon" brüllt. Danach folgt ein nachträgliches Geburtstagständchen für die nun in Tränen Aufgelöste. Simon, wer immer und wo du bist, bald gehst du viral.
Ansonsten: Hier gibt es wenig böses Blut (außer natürlich für Simon). Ein junge Frau ist sogar mit der Ex von ihrem Freund hier. Kennengelernt haben sich wohl alle in der Disco, was Styles begeistert zur Kenntnis nimmt: "Alle guten Dinge passieren in der Disco, oder?" schreit er. Und gibt als Beweis seinen Disco-Groover "Late Night Talking" zum Besten. Verdammt, das ist wirklich sehr, sehr gut und könnte so auch von George Clinton stammen. Immer wieder geht Harry mit Teilen seiner Band auf die Hufeisen-förmige Bühne und lässt sich von Fans aus der ersten Reihe bewerfen. Auch eine Pride-Flagge ist dabei, die er aufnimmt und mit beeindruckender Athletik auf dem gefühlt 200 Meter langen Steg in die Luft schwenkt.
Das soll die Fortuna mal nachmachen
Was mittlerweile auffällt: Sitzplätze sind zwar vorhanden, werden aber nicht genutzt. Es hält wirklich keinen auf den Plastikschalen. Das soll die Fortuna, die hier sonst spielt, mal nachmachen. So bleibt als Fazit, dass Styles in Sachen Entertainment der ersten Liga beigetreten ist. Gleichgültig, ob Disco, Zeitgeist-Pop oder wie er einfach alleine mit er Gitarre die wirklich schöne Ballade "Fine Lines" anstimmt: Alles zu gut, um ihn mit anderen Pop-Dullis aus dem dritten Regal zu vergleichen. Hater war ich eh nie. Und sollte sein Material auf Platte weiter wachsen, kreische ich in ein paar Jahren vielleicht tatsächlich auf Düsenjäger-Niveau mit.
2 Kommentare mit einer Antwort
Gepflegter Rinko-Bericht, sehr schön. Auch die Querverweise auf Robbie. Same as it ever was.
Der Freund hieß Nils und nicht Simon!
habe es gedoppelchecked - du hast recht, sorry