Angesichts des Gitarrengotts und seiner Band klappen die Kinnladen reihenweise herunter – trotz einiger Schönheitsfehler. Review.
Leipzig (dr) - Strahlender Sonnenschein, Fans in Steve-Hackett- und Genesis-T-Shirts und ein LAN-Netzwerk (nein, nicht meins!) mit dem passenden Titel "The LAN lies down on Broadway": Die Bedingungen für einen gelungenen Konzertabend im Leipziger Clara Zetkin Park hätten kaum besser sein können. Und in der Tat entwickelte sich der Abend des 13. Julis auf der schnuckeligen Parkbühne zu einem phänomenalen.
Die Betonung liegt auf entwickelt. Denn – hier irrte Hermann Hesse – nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, nicht einmal jedem Anfang eines sehr gelungenen Konzerts. Bevor sie sich an diesem Abend den Highlights aus Genesis' Meisterwerk "The Lamb Lies Down On Broadway" und weiteren musikalischen Höhepunkten der Prog-Legenden widmen, präsentieren Steve Hackett und Band im ersten Konzertpart Songs aus der Solokarriere des Gitarrengotts.
So ist es Brauch bei den Genesis-Revisited-Konzerten des 74-Jährigen. Mit "Every Day" und dem – um das Gesangsintro gekürzten – "Shadow Of The Hierophant" finden auch auf der diesjährigen Tour zwei unbestrittene Highlights aus der hackettschen Diskografie ihren Weg in die Setlist. Doch nicht nur diese.
Live ist live? Nun ja ...
Der Konzertbeginn erweist sich als holprig: Mit "People Of The Smoke" aus dem aktuellen Album "The Circus And The Nightwhale" eröffnet der ehemalige Genesis-Gitarrist das Konzert. Songwriting und überschwänglicher Pathos des Openers erweisen sich nicht als Hauptproblem. Stattdessen irritiert Hackett jeden Freund von Livemusik, die ihren Namen verdient, damit, nicht nur fast sämtliche Samples (Hahnenschrei, Dampflokomotive ...) aus der Studioversion zu übernehmen, sondern auch Gesangstonspuren.
Ich für meinen Teil besuche keine Konzerte, um mit Unterstützung zahlreicher Samples und 'pre-recorded vocals' eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion der Studioversionen von Songs zu hören. Der vergleichsweise zurückhaltende Applaus nach dem Opener zeigt, dass ich mit dieser Meinung nicht allein dastehe. Im zweiten Song des Abends, "Circo Inferno", trällert dann auch noch Amanda Lehmann mit – die nicht auf der Bühne steht.
Dass es viel besser geht – und dass Liveversionen ihre im Studio entstandenen Pendants übertreffen können, insbesondere dann, wenn man sich nicht sklavisch an die Studiovorlage hält –, beweisen Hackett und seine Band in allen folgenden Songs. Die Weltklassemusiker, die Hackett um sich schart, zeigen nun ihre Fähigkeiten. So verknüpft etwa Bassist Jonas Reingold "A Tower Struck Down" und "Camino Royale" mit einem gekonnten Solo.
Zum Abschluss des ersten Konzertteils lässt der "Shadow Of The Hierophant" die Parkbühne (zumindest im übertragenen Sinn) beben. Die Akustik ist stellvertretend für den gesamtem Abend sehr gut, der Sound druckvoll und gleichzeitig differenziert. Nur das Finale furioso des "Shadow Of The Hierophant" erweist sich einmal mehr selbst für Ohrenstöpselfans als akut tinnitusfördernd, weil zu laut.
Nach etwa 50 Minuten endet der durchwachsene, erste Teil des Konzertabends. Jeder im Publikum weiß, was folgen wird: die besten Songs aus dem delikaten "Lamb", garniert mit weiteren Delikatessen aus der Genesis-Diskografie. Und niemand wird enttäuscht. Denn nach einer 20-minütigen Pause wird Hacketts Band ihrem hervorragenden Ruf voll und ganz gerecht.
Pure Spielfreude und Weltklassesoli im zweiten Teil des Konzertes
Die Auswahl von neun Glanzstücken aus dem 23 Songs starken Jahrhundertalbum "The Lamb Lies Down On Broadway" gelingt Hackett perfekt. Selbstverständlich spielt die Band die beiden Evergreens, also den Titeltrack und die "Carpet Crawlers" (begleitet von einem passablen Publikumschor). Hackett vergaß bei der Songauswahl aber erwartungsgemäß auch die maßgeblich von ihm anno 1974 erschaffenen Beiträge nicht: "Hairless Heart" sorgt für versonnene Blicke im Publikum, das Solo am Ende von "The Lamia" für Begeisterung.
Craig Blundell, die Mensch-Maschine an den Drums, glänzt durch ein ebenso kraftvolles wie präzises Spiel. Sein Bandkollege Roger King meistert die anspruchsvollen Keyboardpassagen aus Songs wie dem lambschen Titeltrack mit Bravour. Und Multiinstrumentalist Rob Townsend veredelt mit an der Flöte und am Saxophon Songs, von denen man dachte, sie ließen sich nicht weiter veredeln.
Als positive Überraschung des Abends erweist sich jedoch Sänger Nad Sylvan. In einer Band voller Weltklassemusiker galt er lange als eine Art schwarzes Schaf von Gnaden des gütigen Gitarrengotts – in meinen Ohren zu Unrecht. Zudem zeigt sich Sylvan lernfähig: Im Gegensatz zur "Seconds Out"-Tour in den Jahren 2021 und 2022 versucht er in Songs wie den "Carpet Crawlers" erst gar nicht mehr, stimmlich in Höhen vorzudringen, die er nicht (mehr) erreichen kann – zweifellos die richtige Entscheidung. Insbesondere seine Gesangsleistung in "The Lamia" und "The Chamber of 32 Doors" nötigt Respekt ab.
Die im Interview durchscheinende Liebe Steve Hacketts zu zweitgenanntem Song lässt sich indes am Dauerlächeln des Meisters während der Aufführung dieses in der Tat oft übersehenen gabrielschen Kleinods ablesen.
Nach dem Best of "Lamb" auch noch ein Best of "Selling England By The Pound"
Nach den Songs aus dem 1974er-Album gehen Hackett und seine famosen Mitstreiter für vier Songs noch ein Jahr weiter zurück in der Genesis-Diskografie: Mit überragenden Darbietungen der drei Prog-Brecher "Dancing With The Moonlit Knight", "Firth Of Fifth" und "The Cinema Show" sowie des Ohrenschmeichlers "Aisle Of Plenty" huldigt die Band auch noch den besten Songs aus "Selling England By The Pound". Ein musikalischer Höhepunkt jagt den nächsten, den Gipfel erklimmt Hackett in seinem Solo in "Firth Of Fifth".
Befürchtungen meinerseits, die zahlreichen hochemotionalen Passagen der Perlen aus "Selling England By The Pound" könnten sich in ihrer Wucht gegenseitig aufheben, wenn die Songs direkt aufeinander folgen, verflüchtigen sich schnell. Das einzigartige Songwriting der goldenen Genesis-Jahre verhindert dies ebenso wie die Spielfreude, mit der sich Hacketts Band auch weniger wuchtigen Passagen widmet, etwa dem Outro von "Dancing With The Moonlit Knight" in einer exquisit instrumentierten Version.
Den perfekten Abschluss des Abends läutet Craig Blundell ein. Sein bereits aus der "Seconds Out"-Tour bekanntes spektakuläres Drumsolo verfeinerte er weiter. Dem wohl filigransten Berserker der Musikwelt gelingt das Kunststück, Phil Collins und Chester Thompson in Personalunion zu verkörpern und deren legendäres Drumduett zu Beginn von "Los Endos" zu übertreffen. Da klappen die Kinnladen vor der Leipziger Parkbühne reihenweise herunter. Und dort bleiben sie auch, nachdem die weiteren Bandmitglieder einsetzen. Pathos-Overkill? Zweifellos! Und zwar – anders als in den ersten beiden Songs des Abends – ein Pathos-Overkill der allerbesten Sorte!
Steve Hackett trägt die Genesis-Fackel nach wie vor beeindruckend weiter. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Genesis-Revisited-Touren folgen werden. Eine noch bessere Setlist (im zweiten Konzertteil) und noch spielfreudigere Musiker werden diese etwaigen zukünftigen Touren aber kaum bieten können. Chapeau, Mr. Hackett!
Setlist:
Songs aus Hacketts Solo-Karriere:
- People Of The Smoke
- Circo Inferno
- These Passing Clouds
- The Devil's Cathedral
- Every Day
- A Tower Struck Down
- Camino Royale
- Shadow Of The Hierophant
Genesis Revisited:
- The Lamb Lies Down On Broadway
- Fly On A Windshield
- Broadway Melody Of 1974
- Hairless Heart
- Carpet Crawlers
- The Chamber Of 32 Doors
- Lilywhite Lilith
- The Lamia
- It
- Dancing With The Moonlit Knight
- The Cinema Show
- Aisle Of Plenty
Zugabe:
- Firth Of Fifth
- Los Endos
2 Kommentare
schön diese Zweiteilung des Abends. Und irgendwie schafft es der geschasste Gitarrist, was die restlichen Mitglieder allesamt versemmelt haben, das Bandpojekt in Würde zu altern.
Kompliment für diese pointierte Konzertrezension, die den Abend bis ins kleinste Detail top beobachtet wiedergibt. Der erste Teil war meiner Meinung nach schlecht strukturiert, das war 2023 in Halle viel besser, weil die Highlights aus "Spectral Mornings" besser gesetzt waren. Und Nad Sylvan war da auch schon stark, etwa bei "Supper's ready ".