23. Oktober 2020

"Wollen wir wirklich so leben?"

Interview geführt von

Mit "Moral Panic" veröffentlichen Nothing But Thieves jetzt ihr drittes Studioalbum. Das kulturelle Vakuum hat die Band in ihrem Youtube-Channel überbrückt, die "Solitude Sessions" und die "Sun Sessions" bieten dort neue Versionen, Coversongs und einiges mehr.

Touren werden auch weiterhin nicht möglich sein. Für Nothing BUt Thieves-Sänger Conor Mason ist das zum einen natürlich tragisch, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit innezuhalten, um sich über einiges klar zu werden: den Zustand der Welt, wie wichtig neue Musik gerade jetzt ist und warum man mit Veränderungen am besten bei sich selbst anfängt.

Conor, in den Corona-Zeiten scheint es zwei Extreme zu geben, entweder sind die Leute zum Nichtstun verdonnert oder aber es gibt mehr zu tun als jemals zuvor. Auf welcher Seite stehst du?

Definitiv auf der letzteren, wir haben Musikvideos gemacht, die neue Platte erscheint, Gespräche wie dieses hier stehen auf dem Zettel. Also, ich bin ziemlich busy im Moment.

Wo erreiche ich dich gerade?

Ich bin bei mir zuhause, in Essex.

Sieht kommod aus bei dir, ist das da ein Poster von Bon Iver hinter dir?

Ich liebe Bon Iver. Zeig' doch mal, was bei dir an der Wand hängt.

Hier, zum einen Siouxsie & the Banshees ...

Sehr schön.

…und dann diesen Typen, der sich gerade auf die Seite von Trump gestellt hat.

Oh nein, verbrenne es! (lacht)

Ach, ich weiß nicht, ich bin noch unentschlossen, ich mag die Pistols und PIL einfach zu gern. Sprechen wir lieber über dich und was bei Nothing But Thieves jetzt ansteht. Inwiefern hat Corona eure Pläne für 2020 durcheinander gebracht?

Wir mussten leider Konzerte absagen, klar, das war gravierend. Eigentlich dachte ich ja, ich bin auf Tour für den Rest meines Lebens, aber danach sieht es im Moment ja eher nicht aus. Was mich persönlich angeht, hatte ich das Glück, im Februar noch einen Surftrip mit ein paar Freunden gemacht zu haben. Das war cool.

Wie gut hast du dich an die neue Situation gewöhnt?

Es dauerte ein wenig. Irgendwie ist es für mich ziemlich schräg, so lange an einem Ort zu sein. Das habe ich ewig nicht gemacht.

Premierminister Boris Johnson hat jüngst das Ampel-Warnsystem ausgerufen, dreistufig soll da die jeweilige Gefahrenlage kommuniziert werden. Wenn du in dich hineinhorchst, wo steht deine emotionale Ampel gerade?

Ich halte mich ganz gut im mittleren Bereich, aber es wechselt, gerade jetzt, wo es im UK wieder bedrohlicher wird und ein erneuter Lockdown möglich ist. Zudem kann ich meine Großeltern leider nicht besuchen, das ist unschön.

Deine ganz persönliche Bilanz der letzten sieben, acht Monate?

Gute Frage, oftmals vergisst man ja bei Interviews, dass die Menschen hinter der Musik auch ein Leben haben, von daher sage ich dir ganz ehrlich: Ich habe diese Zeit für mich absolut genossen, sicherlich auch mehr noch als andere Bandmitglieder. Ich genieße diese plötzliche Ruhe total, mir tut das gut. Ich laufe sonst immer hochtourig, mein Gehirn ist ständig am Britzeln. Ich habe es gebraucht, einmal aus dem Hamsterrad auszusteigen und langsam zu machen. Um mir selbst zu helfen, meine seelische Gesundheit zu stabilisieren. Dieser stoische Zustand tut mir gut, gleichzeitig habe ich aber auch eine Menge geschafft, gerade auch, weil es einfach keinen Druck gab. Ich habe mich in Musik vertieft, habe neue Anregungen bekommen, das ist wunderbar. Also, ich persönlich habe den Lockdown genossen, aber jetzt steigt auch die Sorge um buchstäblich jeden in mir hoch, Menschen, die ihre Jobs, ihr Zuhause, ihre Familien verlieren. Mit Blick auf den Rest des Jahres sieht es schlimm es aus.

Tragisch eigentlich, dass es so eine Gefahrenlage geben muss, um sich ein wenig zu besinnen.

Ja, aber es ist nötig, einmal zurückzutreten und zu schauen, was man da so macht, was für einen Scheiß man konsumiert, womit man seine Zeit verbrennt. Dinge, die vom Wesentlichen ablenken. Ich denke, es wichtig, sich zu sortieren und zu schauen: Was brauche ich wirklich und was ist schlichtweg überflüssig?

"Ich habe den Lockdown genossen"

Hast du Veränderungen vorgenommen?

Ich habe mich zum einen mit meiner spirituellen Seite befasst, mit dem, was nötig ist, gerade wenn man in einer Band unterwegs ist, um mental gesund zu bleiben. Außerdem wollte ich es schon seit Jahren mal probieren, auf vegan umzuschalten. Das mache ich jetzt seit ein paar Monaten und es ist super.

Witzig, ich habe im Sommer von einem Tag auf den anderen wieder begonnen, auf Fleisch zu verzichten. Merkwürdigerweise fiel mir das noch nie so leicht wie jetzt.

Das ist doch großartig. Ich hatte das immer mal wieder vor, war aber irgendwie zu tief in meinen Gewohnheiten. Jetzt dachte ich, es ist der perfekte Zeitpunkt und ich liebe es.

Was genau brachte dich dazu?

Ehrlich gesagt habe ich mich oft wie ein Heuchler gefühlt. In meinen Texten schreibe ich über den Zustand der Welt und was man alles tun müsste, um Dinge zu verändern. Gleichzeitig habe ich aber selbst nicht danach gelebt. Das wollte ich jetzt miteinander in Einklang bringen. Ich lebe definitiv bewusster.

Fiel es dir leicht?

Auf Milchprodukte zu verzichten, war nicht ganz so einfach, auf Fleisch dagegen wirklich easy.

Und in diesen bewegten Tagen bringt ihr mit Nothing But Thieves das neue Album "Moral Panic" heraus. Wie fühlt sich das an?

Gut, jetzt jedenfalls. Ich fand es lange Zeit irgendwie daneben, ausgerechnet jetzt neue Musik zu veröffentlichen. Die erste Single kam raus, die Leute gingen wirklich steil drauf. Gleichzeitig dachte ich daran, wie die Leute überall Panik und Angst haben, wie es mit der Welt weitergeht. Wir sitzen bei Radio 1 und quatschen über die neue Single, während da draußen Leute an Covid-19 sterben. Da stellt man sich schon in Frage.

Was hat deine Denkweise verändert?

Ich habe über die Wochen an mir selbst festgestellt, wie sehr ich Musik brauche, neue Sachen, die ich entdeckt habe, neue Songs, neue Projekte. Ich habe mich zeitweise wie ein Teenager gefühlt, der Musik tatsächlich zum ersten Mal so richtig entdeckt. Das brachte mich zu der Einsicht, dass es gerade jetzt sein muss, neue Musik zu veröffentlichen. Den Fans, die seit Jahren unseren Weg begleiten, etwas zu geben.

Da seid ihr ja ohnehin einen ambitionierten Weg gegangen, eurer Youtube-Kanal wurde regelmäßig mit Material bestückt, es gibt die "Solitude Sessions" und die "Sun Sessions", dazu einen Clip, den ihr mit euren Fans zusammen produziert habt.

Wir haben da gar nicht viel drüber nachgedacht. Wenn mal Leerlauf war, dann kam mir oft der Gedanke, warum man sich nicht mal Songs vornehmen sollte, die wir mit Nothing But Thieves noch nie gespielt haben. Einfach aus Bock. Das ist doch super, mal ein paar Coversongs zu machen. Ich schaue hier direkt in die Sonne, also nannte ich es "Sun Sessions". Auch die "Solitude Sessions" nahmen eine Eigendynamik an, das war toll. Wobei man nach sechs, acht Wochen dann schon mal denkt, hm, vielleicht reicht es dann auch mal.

Es gibt einige Liveclips, etwa die "Amsterdam"-Version aus der Großen Freiheit in Hamburg, da scheint die Verbindung zwischen euch als Band und dem Publikum so eng, als wäre es eine Einheit. Das ist schon extrem, oder?

Ja, wobei man sich das immer mal wieder vergegenwärtigen muss, gerade weil man halt so viel unterwegs ist. Manchmal muss ich mich zwicken und dann frage ich mich: Wie kann es sein, dass diese zwei, dreitausend Leute in Moskau oder in Südkorea uns so nah ist? Wie ist das überhaupt passiert? Gleichzeitig kenne ich es von mir, wenn ich französische oder spanische Musik höre, dass da irgendetwas ist, das unterbewusst Verbindung mit mir aufnimmt. Das ist letztlich die Magie, das ist der Soul an sich.

"Jetzt ist die Zeit, die Dinge anzuschieben"

Du strahlst eine sehr selbstverständliche Sicherheit auf der Bühne aus, war das schon immer so? Oder täuschst der Eindruck womöglich und in dir sieht es ganz anders aus?

Nein, das stimmt schon. Ich bin tatsächlich nie nervös, ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Ich muss jetzt aufpassen, dass ich nicht wie ein Arschloch klinge, aber ich wusste immer, dass ich etwas anderes zu sagen hatte als andere Sänger. Zudem war mein Vater ein großartiger Sänger, ich weiß, dass ich da jede Menge Talent mitbekommen habe. Ich habe mich daher immer sehr sicher gefühlt, das war immer meine Geheimwaffe. Ich habe halt auch schon so früh angefangen zu singen, auf irgendwelchen Schulkonzerten. Das fiel mir von Anfang an nicht schwer. Für mich ist das wie Atmen, es gehört für mich einfach zum Leben.

Inwieweit hat dein Vater dich stilistisch beeinflusst?

Ich habe durch ihn schon sehr früh die größten Jazz- und Soul-Interpreten kennengelernt, das liebe ich bis heute. Ich habe auch mal Jazztrompete gelernt, vielleicht hat das auch meinem Lungenvolumen und damit meiner Stimme gutgetan.

Die Tracklist des neuen Albums liest sich wie ein Kommentar zum Status Quo: "Free If You Want It", "Impossible", "Is Everybody Going Crazy?", "Phobia" und "This Feels Like The End" – die Songs sind ja schon vorher entstanden, entwickeln heute aber ein etwas anderes Eigenleben, oder?

Das kannst du sagen. (lacht) Es ist schon witzig. Wir haben die Sachen ja schon vor ein, zwei Jahren geschrieben. Da ging es mehr um dieses unterschwellige Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, dass die Welt sich in eine merkwürdige Richtung entwickelt. Jetzt geht es so richtig ab, jetzt ist so richtig Dampf unterm Kessel und du hast das Gefühl, es kann dir jeden Moment um die Ohren fliegen. Ich denke, es wird jetzt noch einmal extremer alles. Aber neu ist das nicht. Wenn du dir Brexit anschaust und Trump und die Klimakrise, das sind alles Themen, die nicht neu sind. Jetzt noch die Pandemie dazu, da klingen die Songs schon besonders. Aber Hellseherei ist das alles nicht, wir halten dem Ganzen nur den Spiegel vor. Tatsache ist, dass die Dinge sich ändern muss. Es fängt bei dir selbst an, du musst dich selbst also weiterentwickeln, damit sich das Große, Ganze zum Besseren entwickeln kann. Der Lockdown zieht dem System den Stecker. Wir müssen uns jetzt fragen: Wollen wir wirklich so leben? Unsere neue Platte hat keine Antworten, aber sie stellt genau diese Fragen.

Umso tragischer, damit jetzt nicht auf Tour gehen zu können.

Klar ist das schlimm, aber das Innehalten ist auch gut. Wenn ich daran denke, als ich ein Kid war, da gab es vielleicht zwei, drei Altersgenossen, die sich einen Kopf um Politik oder Umwelt gemacht haben. Heute sieht das ganz anders aus und das ist großartig, das ist genau der richtige Weg. Jetzt ist die Zeit, um über Veränderungen nachzudenken und die Dinge anzuschieben, die unsere Zukunft prägen werden.

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