laut.de-Kritik
Weniger ist mehr, mehr ist noch mehr!
Review von Sven KabelitzWeniger ist mehr. Ein Oxymoron, das im Wortschatz von Kevin Barnes scheinbar nicht vorkommt. Seine Musik platzt aus allen Nähten. Sie kann nur als Ganzes bestehen, ist eine Kampfansage an alle iPod-Playlist-Junkies da draußen und ein großes "Ja!" an das Album als Gesamtkunstwerk. Es grenzt an ein Wunder, dass die CD all die Informationen, die ihr anvertraut werden, verarbeiten kann und dabei nicht an Gewicht zunimmt.
"Palalytic Stalks" führt uns zuerst an der Nase herum, beginnt als fast straightes Prog-Rock-Album, um sich im Verlauf immer mehr zu verlieren. Nach dem ersten Kopfkratzen über all die verwirrten und über sich selbst stolpernden Songideen finden sich in diesem Musik-Kaleidoskop aber hinreißende Fragmente.
Die Texte sind die persönlichsten, die man auf einem Of Montreal-Album seit vielen Jahren zu hören bekommt. Trauer, Verletzlichkeit und Schmerz stecken in jedem Wort. Als wolle er dies verbergen, baut Barnes gigantische Klangmauern auf, die es erst einzureißen gilt, möchte man einen Blick auf sein Seelenleben erhaschen. "I spend my waking hours haunting my own life / I made the one I love start crying tonight and it felt good."
"Gelid Ascent" führt uns, noch eher beschaulich, in Sphären, in denen es sich Kula Shaker bereits seit Jahren gemütlich gemacht haben. Das entrückte Gitarrensolo weckt Erinnerungen an Mick Ronson in David Bowies "Moonage Daydream".
Der Wahnsinn setzt ganz langsam ein. Bereits "Spiteful Intervention" bricht mit allen gängigen Songstrukturen. "Dour Percentage" bombardiert uns die ersten Sekunden mit einer Salve aus Flöten, automatisch möchte man den Kopf einziehen. Nun folgt, was im Universum des Kevin Barnes einem Pop-Song wohl noch am nächsten kommt. Mit einem regelrechten Refrain ausgestattet (Obacht! Nicht daran gewöhnen!) siedelt sich die hippieske Nummer irgendwo zwischen den Scissor Sisters und Mika an.
Konfuser Gesang begleitet in "We Will Commit Wolf Murder" einen rollenden Bass, bevor alle gemeinsam in einen Whirlpool aus Echo eintauchen. In den letzten eineinhalb Minuten ändern sich Stimmung und Song radikal. Bedrohlich wie ein apokalyptischer Reiter galoppiert er über eine einzige Note. "There's blood in my hair"
"Ye, Renew The Plaintiff" beginnt als Elektro-Funk und möchte im weiteren Verlauf gleichzeitig Prince, Brian Wilson, MGMT, The Beatles und Pink Floyd sein. Und selbiges noch einmal rückwärts.
Wenn man alle Farben der Welt zu gleichen Teilen vermischt, erhält man angeblich Weiß. Dreht man dagegen das weiße Album von George, John, Ringo und Paul durch den Mixer, erhält man "Wintered Debts", ein Track, der selten mehr als vier Takte lang wie ein und das selbe Lied klingt.
"Exorcismic Breeding Knife" vergisst sich endgültig in Soundcollagen. Ein Cello spielt "Strawberry Fields Forever" rückwärts und in verschiedenen Tempi, während die Welt umher den Irrwitz der frühen Can und Pink Floyd zelebriert.
Der Funk kehrt zu Beginn von "Authentic Pyrrhic Remission" zurück und hat vom Wahnsinn gepackte Augen. Einen kurzen Moment greifen Of Montreal in ihre Kinderspielzeugkiste der schönen Melodien zurück, um sich nach fünf Minuten einem vertonten Albtraum hinzugeben. Schon ohne den Einsatz von Halluzinogen sieht man Krabbeltiere und Gewürm die Wände hoch schleichen. Die letzten zwei Minuten von Tracks und Album beschließt, wie zur Versöhnung, eine warme und doch melancholische Piano-Ballade.
Fremder, du hast es überlebt. Ab jetzt kannst du voller Stolz in die Welt hinaus gehen und prahlen, dass du ein ganzes Of Montreal-Album überstanden hast. Ja, da hat man was Eigenes, denn "Paralytic Stalks" bedeutet Arbeit und erschließt sich nicht sofort. Wie Kollege Hannes Wesselkämper zum Vorgänger "False Priest" so treffend formulierte, sind Of Monteral oft viel zu viel für nur ein Gehirn. Lässt man sich aber darauf ein, wartet ein frisches, phantasievolles und spannendes Album, das sich gleichzeitig hingebungsvoll vor den Altmeistern der Musikgeschichte verbeugt.
PS: Der Sound ist gigantisch!
2 Kommentare
"False Priest" war für mich schon ein kleines Highlight, das aber für meinen Geschmack zu wenig Beachtung bekam. Ich hätte aber nicht gedacht, daß Of Montreal mal ein so episches und progressives Album voller wundervoller Einfälle zustande bringen würde. Klingt vielleicht etwas abgedroschen, aber ich kann "Paralytic Stalks" nur durch und durch "musikalisch" nennen.
Klar, Geschmackssache ist es nach wie vor. Ich sage aber, es ist 5/5 und vorläufiges Highlight des Jahres, bis die anderen spannenden Platten erscheinen.
Das spaziert von Glam Rock über irgendwelche Soundkollagen in die volle Breitseite Neo-Psychedelica mit schönem Art Pop als Basis. Klingt ziemlich verrückt. ^^