7. September 2018

"Popmusik bedeutet heute nicht mehr viel"

Interview geführt von

Als Marie Fredriksson ihrem Roxette-Kollegen Per Gessle offenbarte, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weitermachen zu können, war diesem gleich bewusst, dass ihn sein nächstes musikalisches Abenteuer woanders hinführen würde. Dass dieser Ort Nashville sein würde, kristallisierte sich erst später heraus.

In der Stadt der phänomenalen Sessionmusiker nahm der Autor von Songs wie "The Look", "It Must Have Been Love" oder "Listen To Your Heart" ein Countryalbum auf – in seiner Muttersprache Schwedisch. Weil er aber bald schon vom Projekt aber so begeistert war, entschied er sich, die Stücke auch auf Englisch zu veröffentlichen. Dieses liegt mit "Small Town Talk" nun vor. Der Release wird aber nicht von einer Solo-Tour begleitet, sondern von einer Art Roxette-Revue unter dem Namen Per Gessle's Roxette – ohne Marie, dafür in ganz anderem Soundkleid.

Warum das so ist, wie das so klingt und erklärte uns Per Gessle im Interview in Berlin, in dem er auch einige Einblicke in sein Songwriting gab.

Gibt es fundamentale Unterschied dabei, Popmusik auf Schwedisch und auf Englisch zu singen?

Ich denke, da gibt es durchaus große Unterschiede. Traditionell, wenn du in meinem Alter bist, wächst du mit englischsprachiger Musik auf – der Musik der 1960er- und 1970er-Jahre. Englisch ist musikalischer, Schwedisch härter, wenn es um Konsonanten und Aussprache geht. Aber es gibt auch diesen anderen Aspekt: Für mich als schwedischen Muttersprachler ist es natürlich schwieriger, auf Englisch zu schreiben, als auf Schwedisch. Natürlich kommt es auch drauf an, um was es im Text geht. Soll es aber sehr persönlich werden, kann ich auf Schwedisch viel tiefer graben. Ich kann die Dinge viel präziser auf den Punkt bringen. Die Texte auf "Small Town Talk" hatten ja ihren Ursprung im Schwedischen, dann wurde es ins Englische übersetzt. Sechs der Texte konnte ich nicht auf Englisch übersetzen, ich hatte sie auf Schwedisch punktgenau geschrieben, brauchte aber jemand anderen, der sie übersetzt. Das ist ein typisches Problem: Wenn man eine Textzeile auf den Punkt bringt, kann man sie nicht übersetzen.

Man müsste dann ja quasi nochmal von ganz vorne beginnen.

Ja, ganz genau. Und das ist das Unmögliche: Man kann nicht noch einmal anfangen. Man müsste alles nochmal neu machen, von einem anderen Blickwinkel schreiben. Das ist zu schwer. Das gleiche gilt für Musik: Wenn du die beste Strophe der Welt hast, aber dir kein Chorus einfällt – dann suchst du am besten jemanden anderen, und bittest ihn, beim Chorus zu helfen. Wenn man feststeckt, steckt man fest, so ist das eben. Deswegen lässt man auch so viele Songs irgendwo liegen, zumindest geht mir das bei meiner Arbeit so. Man macht Fehler und die sind nicht mehr auszubessern. Man muss Dinge liegen lassen und vielleicht nach einigen Jahren wieder zurückkehren.

Als Songschreiber baust du auf starken Melodien und Refrains auf. Wenn du die Musik schreibst, hast du da schon die Sprache im Kopf? Oder singst du Phantasielaute und Nonsens-Texte, um auf die Hookline zu kommen?

Viele machen das so. Ich habe mit einigen Songautoren eine Publishing-Firma, und viele schicken Demos mit Nonsens-Texten, einfach um den Song zu demonstrieren. Ich mache das nicht, fast immer habe ich schon ein Projekt im Kopf. Ich brauche eine Absicht dahinter. Ich bin nicht der Typ, der sechs Stunden am Tag hinter dem Klavier sitzt, um zu sehen, was dabei rauskommt. Ich hatte die Idee, mit Akustiksongs nach Nashville zu gehen – um zu sehen, wie sie klingen, wenn ich sie mit Nashville-Sessionmusikern einspiele. Das war die Idee: es sollte zudem auf Schwedisch sein. Dann habe ich einfach geschrieben und geschrieben, auf diesen Zweck hin. Ich weiß schon früh, welche Sprache ich singen will und für welches Projekt es sein wird.

Natürlich ist Nashville ein Musik-Mekka – gibt es aber noch konkretere Gründe, die dich dorthin verschlagen haben?

Ich mag Country-Musik. Vor allem ältere, alles von George Jones bis Kris Kristofferson, Alison Kraus. Ich bin kein Fan von heutiger Country-Musik, für mich klingt das alles wie Bon Jovi. Nach Popmusik. Mein Hauptgrund war, dass Marie mir im März 2016 mitteilte, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mit Roxette weitermachen kann. Das war traurig, aber auch nicht ganz unerwartet. Ich hatte auf der letzten Roxette-Tour ja mitangesehen, dass sie sich nicht mehr so gut bewegen kann, sie musste sich oft hinsetzen, fiel sogar manchmal um. Sie fühlte sich mit ihrer Stimme nicht wohl – sie wollte gewissermaßen aufhören, bevor es zu spät war. Das respektiere ich. Ich wusste aber gleich, dass das nächste, was ich machen würde, sehr weit von Roxette entfernt sein müsste. Deswegen sang ich auf Schwedisch. Ich entschied mich für eine Singer/Songwriter-Platte – und so kam ich auf Nashville. Das war toll, da ich Sessionmusiker aus Nashville nutzen konnte, die gehören zu den besten der Welt.

"Ich versuche nicht, Marie Fredriksson zu ersetzen"

Erzähl ein wenig von der Zeit, in der du mit dem Schreiben begonnen hast.

Es war eine harte Zeit, meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester verstarben alle innerhalb von drei Jahren, alle an Krebs. Es war Zeit für mich, etwas Persönliches zu machen. Was ich genau in Nashville machen wollte, davon hatte ich keine großen Vorstellungen. Ich wollte hinfahren und sehen, was wir daraus machen können. Es war großartig, die Studiomusiker waren wirklich toll. Ich spielte ihnen die Sachen auf der Akustikgitarre vor und sie spielten auf Anhieb unglaublich, die Songs blühten sofort auf. Ich glaube in der dritten Woche habe ich zu meinem Produzenten gesagt: "Das hier ist so gut, lass uns dieses Album auch auf Englisch rausbringen, so etwas habe ich noch nie gemacht." Und so kam ich zum Übersetzungsproblem. Beim Song "My Finest Prize" war es übrigens andersrum, den schrieb ich auf Englisch und musste ihn dann ins Schwedische übersetzen.

Aus den Sessions entstand ja auch die Band, mit der du jetzt unter dem Namen Per Gessle's Roxette auf Tour gehst – und Roxette-Songs spielst.

Für die neue Tour habe ich eine neue Band mit zusammengestellt, mit der ich noch nie zusammengespielt habe. Wir haben einen Pedal-Steel-Spieler dabei, der auch Gitarre und Mandoline spielt, auch eine Violinistin ist mit an Bord. Mit ihnen habe ich auch drei Songs in Schweden aufgenommen. Und so sind wir plötzlich hier, im Jahr 2018 – und diese Roxette-Tour findet jetzt mit dieser Band statt. Mit Pedal Steel, mit Geige – ganz anders als das, was Roxette-Fans gewöhnt sind. Die Idee hinter dieser Tour ist, dass das Scheinwerferlicht auf den Roxette-Songs liegt, sie sind die Stars. Ich bin nicht der Star und ich versuche auch nicht, Marie zu ersetzen. Fünf von sieben Bandmitgliedern werden singen, wir sind ja fast schon die Beach Boys (lacht). Ich versuche, einen tollen Abend mit Roxette-Stücken im neuen Stil zu machen.

Wirst du auch Solo-Stücke performen?

Das war nicht der Plan. Eigentlich hätte das "Small Town Talk"-Album ja schon früher erscheinen sollen, es wurde jetzt aber verschoben und kommt einen Monat vor der Tour heraus. Vielleicht muss ich ein oder zwei Songs in die Setlist bringen, das habe ich aber noch nicht entschieden. Für mich geht es auf dieser Tour aber um den Roxette-Songkatalog.

Trotzdem verbindest du mit dieser Tour mehrere Welten.

Vor allem die Proben werden interessant werden. Wenn man mit neuen Leuten spielt, haben die immer einen ganz neuen und frischen Input. "Lass uns doch mal diesen und jenen Song versuchen, den liebe ich, seit ich ein Kind bin!" "Oh wirklich? Ich hasse diesen Song." Irgendwer hat eine Idee und ich sehe den Song plötzlich anders – das ist immer ein gutes Ding. Neue Leute in der Band zu haben, hält die Sache frisch. Das braucht man manchmal – eigentlich sogar die ganze Zeit, sonst wiederholt man sich immer und immer wieder. Mal ehrlich: Das einfachste wäre gewesen, als Roxette aufzutreten, Marie zu ersetzen und selbst in den Hintergrund zu treten, wie ich das auch mit Marie immer getan habe. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte, dass die Songs die Attraktion sind und ich möchte zumindest versuchen, Songs wie "Must Have Been Love", "Listen To Your Heart" und "Sleeping In My Car" neues Leben einzuhauchen.

"Bei Bowie kamen die Leute wegen Bowie"

Verlässt du mit diesem Projekt deine Komfortzone?

Ja und ich versuche, das ständig zu tun. Ich bin alt genug, das zu wagen! (lacht) Das mit der Komfortzone klingt ja irgendwie abenteuerlich, das ist es aber nicht. Man muss das tun, um interessiert zu bleiben. Wenn du dich wiederholst, wird es am Ende immer langweilig. Ich kann keine Platten mehr machen, als wäre es 1988. Es ist nämlich nicht mehr 1988. Nicht, dass die Platten damals nicht gut gewesen wären, ich würde gerne wieder einen Song wie "The Look" schreiben. Aber er müsste nach heute klingen. Deswegen arbeite ich gerne mit jungen Leuten: Sie tragen nicht die Bürde der 1960er- und 1970er-Jahre mit sich. Sie scheren sich nicht um Akkordfolgen, weil sie oft keine Akkorde kennen und ausschließlich mit Computern arbeiten. Wenn ich mit ihnen über Musik rede, C-Dur, C-Moll-Dur, dann wissen sie nicht so wirklich, wovon ich rede. Sie sitzen eher am Computer und schieben Dinge hin- und her.

Aber ist das etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Schaue ich mir die Akkordfolgen von Songs aus den 1960ern und 1970ern an, die hatten ja zum Teil tolle, kreative Läufe die tonal an interessante, unerwartete Plätze führten. Und den Fokus auf diese kompositorische Substanz und auf interessante Akkordfolgen gibt es in der heutigen Popmusik ja nicht mehr so oft.

Ja, da stimme ich völlig mit dir überein. Ein Teil von mir sagt natürlich, das war früher schon besser. Als du wirkliche Songs geschrieben hast. Man muss aber andererseits auch sehen, dass Popmusik immer die Gesellschaft reflektiert. Mein Sohn ist jetzt in seinen Zwanzigern, er schert sich nicht darum, wer der Künstler ist. Er legt einfach eine Spotify-Playlist ein, aber er verbringt Stunden mit Counterstrike und World of Warcraft. Er investiert gleich viel Energie in Counterstrike wie ich damals in "The Dark Side Of The Moon", "Aladdin Sane" oder "Aqualung". Popmusik bedeutet heute nicht mehr soviel wie früher. Die Leute gehen heute auf EDM-Parties, zu David Guetta oder Avicii, als der noch lebte – aber sie gehen doch nicht wegen der Musik oder dem Künstler hin, sie gehen wegen den Leuten, der Party, den Drogen, der Show hin. Bei der "Station To Station"-Tour von David Bowie kamen die Leute wegen David Bowie und wegen nichts anderem. Was ich damit sagen will: Die Popmusik ist wie die Gesellschaft. Alles läuft nach Formel, die gleichen Geschäfte in jeder Stadt, die selben Plattenfirmen, die genauso gut Kosmetika, Seife oder Make-up vermarkten könnten. Es ist logisch, dass Popmusik so geworden ist. Man hat diesen Algorithmus gefunden, der Popsongs nach dem Muster von den Songs, die heute in den Charts sind, schreiben kann. Das ist die Zukunft, denke ich. In zwanzig Jahren wird die Gesellschaft so sein – und auch die Popmusik. Klar gibt es Ausnahmen, Ed Sheeran zum Beispiel, einer der größten Musiker zur Zeit und ein Songschreiber und Gitarrist. Aber wenn du mir jetzt einen Song auf Spotify vorspielst, der eine Milliarde Streams hat, werde ich nicht nachvollziehen können, warum er auch nur einen einzigen Stream hat. Aber es ist nun mal so: Die Kids wollen diese Musik und Kids sind die Hauptzielgruppe der Popmusik. Spotify wurde nicht für mich gemacht. Ich – und da wird es dir gleich gehen – mag Albumsleeves, die Kunstform das Albums. Das vermisse ich. Aber in 20 Jahren, wenn mein Sohn Kinder haben wird, wird er sich einen Dreck um Albumsleeves scheren (lacht). Das ist nicht richtig oder falsch sondern einfach ein Zeichen der Zeit.

Du hast einmal gesagt, dass du dich nur für das interessierst, was du selbst nicht machen kannst.

Ja, das war immer schon so. Einige Leute, mit denen ich arbeite, können Dinge beispielsweise nicht simpel machen. Ihre eigenen Sachen sind immer hochkomplex, davon habe ich keine Ahnung. Aber wenn ich etwas Komplexes brauche, wende ich mich an sie. Deswegen ist die Roxette-Produktion oft so ausgefeilt: Nicht wegen mir, ich habe nur das Gerüst gemacht, sondern Clarence Öfwerman das daraus gemacht hat. Wenn ich die Musikalität von Clarence hätte, das so komplex zu machen, könnte ich solche Songs aber wiederum nicht schreiben. Diese simplen Songs sind die schwersten zu schreiben: Man muss sie interessant klingen lassen, obwohl sie so simpel sind. Clarences Lieblingsbands sind Yes und Gentle Giant, er hat nie mit Popmusikern gearbeitet und wollte ursprünglich auch gar nicht mit mir arbeiten, weil ihm das zu simpel war. Unser späterer Schlagzeuger hat ihn aber überzeugt und meinte, dass daraus etwas Tolles werden konnte. Wir probierten rum und Clarence machte sofort einen Eindruck auf mich. Er machte aus einem recht steifen Song etwas Tanzbares, er trug einfach dieses Etwas bei, das ich nicht konnte. Und genau so verfahre ich ständig. Dasselbe gilt ja für Marie: Sie machte die Songs durch ihre Art soviel besser, als ich sie mit meinem Gesang je hätte machen können. Sie hatte einfach dieses Talent, diese Stimme.

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