laut.de-Kritik

Das ist sogar für Dancepop zu doof.

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"You & I" ist einfache Stakkato-Dance-Mucke. Es handelt sich um zwölf klare und kurze Songs nach identischem Strickmuster: Oberhalb von 100 beats per minute, aber auch nicht zu stürmisch, peitschen generische Electro-Loops nach Art der späten 90er und reduzieren Musik auf künstliche Hi-Hats, Keyboard-Imitat und die Stimme. Ach ja, die Stimme von Rita Ora. Könnte aber auch jemand anders sein, Ora klingt jetzt nicht besonders charakteristisch und gibt sich auch größte Mühe, nicht im Gedächtnis zu bleiben.

Vor allem hört sie sich fest, nachdrücklich, aufdringlich an, ungefähr wie jemand, der beim Zahnarzt 100 Mal den Abdruck für eine Aufbissschiene in eine Gummiform beißt. Und sie wirkt wie jemand, der von 9 bis 17 Uhr ins Studio geht wie andere ins Büro und um 16:20 Uhr das innerliche System runter fährt, während die Aufnahmen noch laufen. Offenbar wurden manchmal die Takes aus der Feierabend-Einläutung verwendet. Oder vielleicht die Vocals von einem Double?

"You & I" prädestiniert sich als Pop, dem niemand entkommen kann, sobald man Massenmedien benutzt und Läden in Fußgängerzonen betritt. Rita Ora tut niemandem weh, solange sie diesen ich-bin-ein-kleines-Mädchen-aber-kann-auch-Country-Heulsusen-Kieksgesang beiseite lässt, mit dem sie im Titeltrack Shania Twain und Miley Cyrus gleichzeitig nachäfft.

Kommen wir zur Abteilung Spaß auf dieser Büro-CD, dem kleinsten Fachbereich: "That Girl" recycelt das gute alte "Michael Wants To Party All The Time", in den 80ern ein Hit von Schauspieler Eddy Murphy (der musikalisch zuletzt mit solidem Pop-Reggae auf sich aufmerksam machte.) "Party All The Time" - zu finden in "That Girl": Kann man machen, geht in Ordnung, langweilt jedoch schnell.

"Praising You ft. Fatboy Slim" bounzt im Wesentlichen auf alten Samples von - eben, genau: Fatboy Slim, man ahnte es. "Praise You (Like I Should)" war ein monumentaler Hit aus Great Britain's Big Beat-Welle von 1999. Man hätte das Stück schlechter ausschlachten können. Passt fürs einmalige Hören, dann reicht's. Ritas "shou-ou-ou-ou-ould" in der Zeile "like I should" dauert satte 17 Sekunden. - "Don't-don't kno-ow what to do / o-o-always prasing you!", sing-stottert sie hyperdynamisch a-a-eine sehr a-a-eingängige Geschichte.

Sämtliche Songs eignen sich vom jeweils ersten bis zum letzten Ton in jeder beliebigen Alltagssituation, in der Wischiwaschi-Sound halb vernehmbar aus irgendwelchen gut versteckten Lautsprechern kratzt und krächzt: in der Wartehalle des Einwohnermeldeamts, im Friseursalon mit überlagernden Fön- und Waschgeräuschen, in Supermärkten mit eigenem Marktradio, das für überflüssige Putz-Utensilien wirbt. Ora geht immer. Zumindest, solange die Situation banal ist.

Alle Lieder faseln vom Problem zwischen "You", einem Mann, und "I", einer Frau. Wow. "You" liebt sie nicht immer, sondern nur manchmal, und zum Beispiel nicht, "when the night is over". Blöde Sache, zu erfahren ist sie in "You Only Love Me". "You", auch genannt "Baby", denkt zu viel. "Vertrau drauf, wie du dich heute nacht fühlst", rät die Frau dem Baby in "Don't Think Twice". Und sie weiß auch, wo Baby nicht denken soll, nämlich in Babys Kopf. Das sind Texte ... boah! Weil sie das Baby liebt, denken ihre Freundinnen, sie sei "crazy! And they're kinda right". Nach dieser Erkenntnis in "Unfeel It" erfahren wir in "Waiting For You" die Ursache: Sie glaubt immer an Love Stories. Immer. Um das zu unterstreichen, muss noch mal ein viel zitierter Klassiker her halten, dieses Mal "You Got To Show Me Love" (Robin Stone, 1993), aus dem Ritas Team nur das charakteristische Keyboard-Pattern 'interpoliert' (echtes Sample zu teuer?), aber nicht den Text übernimmt.

In "Girl In The Mirror" empfiehlt Rita a.k.a. lyrisches Ich a.k.a. "I" dem "Baby" a.k.a. Typen a.k.a. "You": "Am besten hockst du dich hin, denn ich muss dir ein Geständnis machen. Es tut mir leid, ich liebe dich, aber ich hab jemand besseren gefunden, und das ist jemand, den ich für jetzt und für immer will. Ich hab dich nach Strich und Faden betrogen. Für jemanden, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne", und dann schreit die Rita wie am Spieß, während sie sich in der Ekstase der frisch gelüfteten Selbstliebe in schwindelerregende Tonhöhen empor ächzt, die eine Carey schlafwandelnd und mit smootherem Ergebnis besteigen würde. "Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, denn (hechel) das fühlt sich genau (ächz) richtig an", und da hat die Luft gerade noch so ganz knapp für die Phrasierung gereicht. Wenn man anderthalb Ohren zudrückt.

Dank digitaler Schnitttechnik muss Rita nur eine Achtelsekunde lang Luft holen, die ihr gerade noch ausging, und schon kann sie zwei Oktaven tiefer die nächste Strophe weiter singen. Faszinierend, wie hemmungslos manche Artists ihr Publikum verarschen.

Warum kommt sowas überhaupt an die Öffentlichkeit, ohne dass irgendwer in der Tontechnik, im Producer-Team, beim Mastering, wenigstens danach noch im Marketing, im Product Management des Labels oder an irgendeiner Stelle in irgendeiner Funktion sagt: 'Leute, das könnt ihr so nicht bringen, das ist eine handwerklich abgrundtief schlechte Aufnahme, die handwerklich abgrundtief künstlich zusammen geschnippelt ist. Das ist sogar für Dancepop zu doof.' - Aber dafür müsste man ja betriebliche Routinen durchbrechen. Und einen künstlerischen statt rein betriebswirtschaftlichen Anspruch haben.

Beim oberflächlichen Nebenbei-Dudeln wirkt der gebröselte Dreck perfekt glatt in Szene gesetzt. Es scheint, als ob die ganze CD überhaupt den Beweis antreten wolle, dass Rita Ora und ihre Ghostwriter, Assistenten und Produzenten alles richtig gemacht hätten. Genau diese Musterschüler-Haltung kann einem die Platte ganz rasch verleiden, sogar dann, wenn man den Anfang mit (der Vorab-Single) "Don't Think Twice", die Geigen- und Cello-Samples zum Underwater-Echo-Effekt im Intro und das Carpe diem-Motiv der Lyrics noch relativ gut findet. Selbst dann, wenn man diese einzige halbwegs organische Idee auf dieser Platte feiert, die aber doch nur Cher neu verpackt. Selbst dann lässt sich der zunehmende Murks beim Vorstoßen ins Album-Innere nicht mehr rechtfertigen oder gut heißen, sofern man Musik liebt, ihre Spontaneität, ihre Emotionalität, ihre Schallwellen, ihre Fähigkeit zum Mood Management.

Den Abschuss im Reigen des Unechten und Musikzerstörerischen macht das überflüssige "Shape Of Me". Oras Trödelmarkt-Gang kratzt alles zusammen, was gebraucht zu kriegen war, um irgendwas in Richtung Folktronic-Soulpop ins Album rein zu zwingen. Man nehme Suzanne Vegas "Tom's Diner" mit "dab-dab-dah-dab"-Intro, Duffys "Mercy" als Passepartout für alle ideenlosen Songschreiber-Meetings und erinnere sich an die brasilianischen Trommeln in Michael Jacksons "They Don't Care About Us". Da echte Bloco Afro-Trommler sie schlugen und noch kein Computer-Tool sie simulieren kann, entsteht die dümmste Percussion-Grütze des bisherigen Jahrzehnts. Rita Ora imitiert darauf den quäkenden Gesang von Duffy auf "Mercy" in selbigem Rhythmus zu neuen Schrott-Snare Drums.

Dazu spult sie in schauspielerischer Perfektion, aber gänzlich unglaubwürdigen Überbetonungen einen scheinbaren (!) Mental-Health-Text von der Qualität eines dieser Zufalls-Monologe ab, die sich manchmal in Zügen oder Straßencafés mithören lassen: "Und-dann-hab-ich-gesagt-und-dann-hat-er-gesagt / und-dann-ich-so-und-dann-sie-so ..." Und dann und dann und dann. Schlüsselwort: Ich.

Da hilft es gar nichts mehr, dass "Look At Me Now" die Brücke zwischen "Shape Of Me" (Selbstliebe) und "Girl In The Mirror" (in den Spiegel schauen) schlägt, und nun im Spiegel die Selbstliebe aufkeimt. Quasi, dass hier eine Lied-Trilogie in passender Tracklist-Reihenfolge vorliegt. In "Look At Me Now" erkennt das Ich in sich die eigene Mama, und die Vocals hören sich so geklont an wie Stimmen in Shampoo-Werbung.

Die Ballade "Notting Hill" über Selbstwertgefühl und das Erwachen neben dem ersten Boyfriend könnte sogar ein relativ schönes Stück sein, würde nicht obligatorisches Handclapping durch Zeit stopfende "uuuh-oh-ho-ooooh"-Takte begleiten. Hier ist alles abgeschleckt glatt und Klon-formal perfekt, aber keine Kunst: Man hat einfach die Hit-Zutaten seelenlos zusammen geklaubt, die zurzeit immer funktionieren, von dem Robin S.-Zitat angefangen bis zu diesen Ed Sheeran-Folktronic-Möchtegern-Momenten.

Warum müssen Dancepop-Producer diese immer gleichen Stakkato-Disco-Intros aus Chers Comeback "Believe" tot spielen? Und an Rita, Demi, Zara, Ellie und deren Nachahmerinnen: Wieso fällt euch allen nix mehr ein? Weil ihr nur am Handy hängt wie auf dem Cover?

Trackliste

  1. 1. Don't Think Twice
  2. 2. You Only Love Me
  3. 3. Praising You ft. Fatboy Slim
  4. 4. Unfeel It
  5. 5. Waiting For You
  6. 6. You & I
  7. 7. That Girl
  8. 8. Shape Of Me
  9. 9. Look At Me Now
  10. 10. Girl In The Mirror
  11. 11. Notting Hill
  12. 12. I Don't Wanna Be Your Friend

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