laut.de-Kritik

Lebensfreude, Herzschmerz und irgendwie Punk.

Review von

Bereits der Openener "MS Abbrunzantissima", eine der Vorabsingles von "Kult", nimmt die Hörer:innen mit auf eine "Kreuzfahrt ins Nichts". Das Ende einer Liebe ist nie schön, warum also nicht direkt einen mediterranen Titanic-Vergleich ziehen? Antithetisch stehen fröhliche Hooks zum Dilemma des unausweichlichen Liebeskummers. Im Video zur Single sieht man die beiden Frontmänner Roy Bianco und Die Abbrunzati Boys inmitten des klassischen Cruise-Publikums, das, im Herbst des Lebens, die Dinge akzeptiert, wie sie sind. Gar nicht so abwegig, eigentlich. Auch das Gitarrensolo knallt, so wie alle musikalischen Arrangements der zehn Songs auf "Kult". Endlich mal mit Profis!

Die fiktive Geschichte von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys beginnt bereits 1982 am Gardasee. Es folgen Jahre des Ruhms, der Auszeichnungen, großen Momente, und wie die Ora weht der Italoschlager über die Welt. Aber der Erfolg birgt auch Schattenseiten. Zu viel Ego auf der Bühne, man entzweit sich und dann, 1997, Götterdämmerung: Die unangefochtenen Könige des Italoschlagers lösen sich auf. Die Welt ist plötzlich eine andere.

Über 20 Jahre später, Aufatmen: Aus der kalten Asche der Vergangenheit bäumen sich die alten Allväter auf, hin zu einer neuen Generation des Italoschlagers – Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys kehren zurück auf die große Bühne. Seitdem geht es nur noch steil nach oben: Nach dem 2020er Longplayer "Greatest Hits" folgt 2022 "Mille Grazie" – geht direkt auf die Eins. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die Band vom belächelten Spaß-Act zu einer ernstzunehmenden Institution in der deutschen Indie-, (ja, Indie!)-Landschaft. Ausverkaufte Hallen, Zugpferde auf Festivals, Fernsehauftritte – you name it. Hits wie "Bella Napoli" oder "Quanta Costa" avancieren zu Evergreens, Circlepits werden kurzerhand zum "Schlagerstrudel".

Und auch auf "Kult" ist "MS Abbrunzantissima" keineswegs der einzige Hit. Weitere Highlights sind "Goodbye, Arrivederci", das spätestens bei der bombastischen Bridge sein ganzes Potential entfaltet, oder "Velocità", das mit R'n'R-Riffs und ein bisschen Indie auch den letzten Tanzmuffel vom Stuhl reißt. "Komm', wir dreh'n noch 'ne Runde, wir wollen Velocità!"" Hier spürt man schon beim Hören den Fahrtwind auf der - alles außer verkehrssicheren - Vespa vom Roller-Verleih Toni.

Obwohl das Sehnsuchtsland noch immer Italien ist, hat die Gruppe auf "Kult" ihren geographischen Horizont erweitert und nimmt nun auch Griechenland, besser gesagt Santorin ins Visier. Warum auch nicht, die Band steht ohnehin für Weltoffenheit, Gleichheit und Toleranz. Ob man nun in der "Rimini Disco" oder "Unter Palmen" der Wollust frönt, ist nur eine Frage der eigenen Präferenz.

Lediglich das altbackene "Ich Liebte Die Musik" und das dazu gegensätzliche, autogetunte "Bardolino" treffen vielleicht nicht jederleuts Geschmack, aber ein wenig Diskurs muss es geben. Live wird sich zeigen, ob die Stücke genauso knallen wie der Rest der stets hervorragend kuratierten Setlist.

Perfektion erreicht das Album bei "Weiße Rosen" und der dazugehörigen "Ouvertüre", die für sich alleine genommen schon ein Masterpiece ist. Ist das noch Indie oder schon der Opener für die vierte Staffel von "Twin Peaks"? In jedem Fall ein astreiner Abschluss des Albums und auch für kommende Livekonzerte: "Und wenn die Ponte nicht mehr steht, und All'Italia nicht mehr fliegt, selbst dann war die Liebe nicht umsonst." Also mal ehrlich, mehr geht nicht.

Der Eskapismus, den die Band propagiert, tut der Seele gut. Es erinnert an leichtere Zeiten, eine Hommage an die Dolce Vita, an Amore und laue Sommernächte an der Adria – oder am heimischen Baggersee, you decide. Auch das ist Rebellion, dazu muss man nicht schreien und Instrumente kaputt machen. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys vereinen ihre Fans durch Liebe, Fantasie, schöne Musik. Und der Erfolg gibt ihnen Recht. Seit Fraktus hat sich wohl keine Fanbase mehr so sehr auf eine fiktive Bandhistorie eingelassen, und im Vergleich zu den Hamburgern spielt die Band in einer völlig anderen Liga (Sorry an Schamoni, Strunk und Palminger).

"Kult" ist kein Kitsch, es ist Lebensfreude, Herzschmerz, Indie und irgendwie sogar Punk. Dieses Album dürfte noch nicht den Zenit der Gruppe darstellen, denn auf dem Olymp ist noch Luft nach oben.

Trackliste

  1. 1. MS Abbrunzatissima
  2. 2. Santorin
  3. 3. Bardolino
  4. 4. Sophia Loren
  5. 5. Goodbye, Arrivederci
  6. 6. Ich Liebte Die Musik
  7. 7. Agosto 83
  8. 8. Rimini Disco
  9. 9. Unter Palmen
  10. 10. Velocità
  11. 11. Und Wenn Sie Singt
  12. 12. Ouvertüre
  13. 13. Weiße Rosen

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2 Kommentare mit 13 Antworten

  • Vor 10 Tagen

    Was kostet Amore? Diese Frage stellte ich mir auch damals 1987, als ich meine Francesca in einem Dorf auf Sizilien kennengelernt hatte. Als wir eines Abends nach Palermo fahren wollten, ließ sie ihr Vater nicht gehen, ohne meinen geliebten Fiat 127 als Pfand einzufordern. Wir fuhren den ganzen Weg auf der Ladefläche eines Orangentransporters mit und als wir uns in der selben Nacht liebten, hing noch der süße Duft der Orangen in ihrem Haar. Als der Urlaub zu Ende und meine Taschen leer waren, bot mir ihr liebster Onkel Matteo Arbeit in seiner Werkstatt an. Wäre ich nur geblieben…..

  • Vor 7 Tagen

    Alter, könnte mir mal jemand näher erläutern wo genau da jetzt der Punk zu sehen/hören sein soll? In der Überschrift erwähnt & im letzten Satz der Rezi blumig, nichtssagend untergebracht. Sorry, aber das geht so nicht und entspricht auch nicht mal Ansatz / Nuancenweise dem was da zu hören ist . WO IST DER PUNK

    • Vor 7 Tagen

      Beruhig dich!

    • Vor 7 Tagen

      in der attitüde mein junger freund

    • Vor 7 Tagen

      Dieser Kommentar wurde vor 7 Tagen durch den Autor entfernt.

    • Vor 7 Tagen

      PUNK ist doch u.a. durch die Betonung der Individualität und Nonkonformismus gekennzeichnet. Das passt. Während die Amigos, Die Schlagerpiloten etc. in ihren ficktiven Geschichten den niemals endenden One-Night-Stand mit der glutäugigen Eingeborenen besingen, endet bei Roy Bianco & DAB die "Unter Palmen" oder in der "Rimini-Disko" beginnende Liaison ja auch mal gerne normabweichend "Auf der Kreuzfahrt ins Nichts" (MS Abruzz..., siehe Rezension) oder "auf dem Grund des Gardasees" (Bardolino). Große Altersunterschiede in der Beziehung begrenzen sich nicht wie sonst in der Branche auf alter Sack und williges junges Ding (Sophia Loren), den "HöhePUNK(t)" erreicht schließlich die totgeschwiegene erektile Dysfunktion (Weiße Rosen):
      "Und wenn am Brenner nichts mehr geht,
      der Scirocco nicht mehr weht,
      auch dann war die Liebe nicht umsonst."
      Mehr PUNK geht kaum.

    • Vor 6 Tagen

      Toni L. hat mir erzählt dir fehlt der Punk.

    • Vor 6 Tagen

      Einer von den Boys hat früher mal in einer Metalcore-Kombo in Augsburg gespielt. Vielleicht kommt daher der Punk :D.