laut.de-Kritik

Chick Corea, Kirk Hammett, R'n'B und Rap - hier ist für jeden was dabei.

Review von

"Blessings And Miracles" ist keine Weihnachts-CD, trotz der "Segnungen und Wunder" im Titel. Gefühlt ist es ein Sampler, schaut man auf die konfuse Bandbreite der Gäste, die Carlos Santana versammelt, und berücksichtigt man den stilistischen Spagat: "She's Fire" verkörpert Santanas neues "Maria, Maria" (1999). Die "Santana Celebration" trägt Züge eines neuen "Oye Como Va" (1970). Andererseits glückt dem Chamäleon des Classic Rock sogar ein rundes Album, das auf natürliche Weise eine Klammer vom Intro "Ghost Of Future Pull / New Light" bis zum Outro "Ghost Of Future Pull Part 2" spannt, den zweiten Track im vorletzten spiegelt etcetera, alles in allem eine stringente Struktur beweist.

Die beiden Vorab-Singles knüpfen an Santanas Selbst-Neuerfindung der Jahre '99/2000 an und klonen sie. Mit dabei Rob Thomas und G-Eazy. Biederten sich die einstigen Hits "Smooth" und "Maria" an damaligen Modern Rock- und R'n'B-Mainstream an, überzeugen auch die heutigen Kopien kaum. Doch lässt sich "Blessings And Miracles" ein taktischer Sieg sofort zusprechen: Es ist für alle was dabei auf dieser Platte.

Der Gemischtwarenladen zielt zum Beispiel auf diejenigen, die Santana schon immer wegen seiner speziellen Gitarre-Ekstasen liebten und auf die psychedelischen Exkurse scharf sind, wenn Carlos sich etwa minutenlang in Trance zu verlieren scheint. Schon der Einstieg der Platte bietet da einiges. Wer die zarte und verträumte Seite des Musikers und seiner mit Gästen aus der Latinjazz-Szene angereicherten Stil bevorzugt, wird gegen Ende der CD strahlen.

Dazwischen punktet der musikalische Brückenbauer bei nerdigen Nostalgie-Fans, wenn er Steve Winwood das Mikrofon überlässt. Was sich immer lohnt. Und sei es nur für eine Coverversion wie "Whiter Shade Of Pale feat. Steve Winwood". Bei diesem Lied kann man mehr falsch als richtig machen, weil das Original so perfekt ist; trotzdem bekommen Steve und Carlos eine gigantisch gute Fassung hin. Respekt!

Wer das Gefühl teilt, dass Living Colour eine der innovativsten Gruppen der Musikgeschichte waren, darf sich auf "Peace Power feat. Corey Glover" mit dem Sänger der Metal-Funk-Crossover-Pioniere freuen. Ein Hauch von Metallica rundet das Aufgebot dank Kirks Erscheinen ab ("America For Sale feat. Kirk Hammett, Marc Osegueda"). Und wer's lieber weniger exzentrisch mag, dafür stromlinienförmig und gediegen, wird in "Joy feat. Chris Stapleton" bedient.

Im lebenslustigen und übersprudelnden "Rumbalero feat. Salvador Santana, Asdru Sierra" lässt (aus der CD-Ära?) Eurodance grüßen. Statt eines Eurodance-gemäßen Rappers gibt's aber Voodoo-artige Klischeegesänge eines nicht Trompete spielenden Star-Trompeters (Asdru Sierra von Ozomatli). Der Dancefloor-Stampf räumt sich im Laufe der Minuten selbst weg, wenn Carlos' Sohn Salvador in echte Keyboard-Tasten greift, die wie eine Mischung aus Hackbrett, Cembalo, Dart-Pfeilen beim Einpflocken und Absauggeräusch eines Geschirrspülers klingen. Das muss man gehört haben, genau einmal, dann reicht's! So crazy, so kultig. Eine infernalische Kakophonie, die sich wahrscheinlich nur unter LSD-Einfluss zu Kunst adeln oder überhaupt genießen lässt.

Umso konsenslüsterner mutet dann "Joy feat. Chris Stapleton" mit New Country-Hype-Wunderheld Chris als Sänger an. Hier ersäuft jede denkbare Struktur aus Strophe und Refrains in einer diffusen Sirup-Überschwemmung aus "Abraxas"-E-Gitarre (Santana oldschool) und alles zukleisternden schulmeisterlichen Background-Chorälen. Ein Song mit dem Charme eines Holzfällerhemden tragenden Jodelvereins aus den Mideastern-Appalachen, so derart mies, dass es schallend kracht und gehört werden muss, weil man sonst gar nicht ahnt, zu wie viel Kitsch die Entertainment-Industrie im Vorweihnachtstaumel fähig ist.

Rob Thomas von Matchbox 20 erinnert beim Singen wieder an Tante Käthe, wenn sie dem Enkel "Rotkäppchen" als Gute-Nacht-Geschichte vorliest: Überdeutlich die Töne rausspuckend, künstlich dramatisierend, woran das ebenfalls beteiligte One Hit Wonder American Authors, eine Ex-Bostoner Ex-Collegegruppe mit Banjo, null Komma null zu ändern vermag. "Move" ist flapsig, rhythmisch seltsam, in erster Linie beliebiger Hintergrundlärm, eignet sich zwischen Werbung und Wetter in der Morning-Show. Musik für die Zapfsäule.

Präsentierte sich Carlos zuletzt noch als selbsternannter Afrika-Kenner und führte dafür die Dienste einer mitwirkenden Spanierin als Qualitätssiegel ins Feld, ändert er jetzt seinen Kurs recht radikal. Die damalige und die konkurrierende neue Plattenfirma sind sich zusammen mit ausgewählten Publikationen darin überraschend einig, dass das "Africa Speaks"-Album Santanas bestes gewesen sei. (Ich habe es seit meiner Rezension 2019 dann noch ein halbes Mal gehört.)

Die neue Scheibe wirkt erheblich alltagstauglicher, weniger verkopft, nun nicht mehr auf ein Jazz/Exotismus-Elitentum zugeschnitten. Klarer kommen die Santana Trademark-Riffs zum Vorschein, das erste bereits nach 53 Sekunden im Zuge einer Art Ouvertüre.

Bald tauchen vorm inneren Auge beim Hören Filmfetzen von der Woodstock-Konzertdoku auf. Die psychedelischen Orgeln im zweiten Instrumental, "Santana Celebration", einer Art Intro nach dem Intro, bestätigen diese zeitreisenden Gedankensprünge.

Dazu passt textlich, was Corey Glover vorträgt, der in "Peace Power" an die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger erinnert: "Gebt die Macht dem Volk / dem Volk im Ghetto / zu lange wurden Unterschiede gemacht". Unterlegt mit einer klaren Botschaft, wandelt sich, was mit Rob Thomas, Chris Stapleton & Co. noch manieriert und kalkuliert klang, in Ekstase. Reißt mit, steigert sich wie von allein. Bester Tune des Albums!

Auch die Nummer mit Kirk Hammett hinterfragt mit der Imposanz eines Armee-Marschorchesters das Zusammenleben in den USA. Die amerikanischen Ideale stehen zum Ausverkauf, "America For Sale". Marc Osuegeda von den (schon lange inaktiven) Thrash Metallern Death Angel verstellt sich nicht die Bohne, wenn er kehlig keifend losröhrt. Amerika verkaufe Leute wie Vieh, stänkert er. Stromgitarren, Drums und Percussion brettern vogelwild herum. Bei der kurz angebundenen Lyrik, dank x-maliger Wiederholung auf sechs Minuten-plus gestreckt, kommt man ins Nachdenken. Dann fallen einem Gegenden in den Staaten ein, die von Fracking verseucht sind. Und Gemeinden, deren Trinkwasserquellen für Appel, Ei plus Schmiergeld an Weltkonzerne verhökert wurden, die das mineralhaltige Nass mit zirka 99 Prozent Marge in Plastikflaschen abfüllen. Der Track ist ein energisches Opus und kommt allen Akteuren von Herzen, man hört's.

Wenn in "Mother Yes" mal keine Gäste dabei sind, wird Carlos schneller, straighter, vor allem körperlicher, zum Mitschwitzen und Niederknien. Die Nummer spricht mit 'Tribal Drumming'-Sequenzen die Sorte Hörer*innen an, die mit Musik reisen und die Südhalbkugel spannend finden. "Mother Yes" pladdert wie ein Tropengewitter und mindestens so schwül und klanglich mellow wie in den Anfängen von Santanas Karriere, "Samba Pa Ti" usw. In einem multinational besuchten Uni-Seminar über lateinamerikanische Kunst und Musik sagte mir einmal ein mexikanischer Student im Alter von Santanas Kindern, auch wenn Carlos' Sounds natürlich jegliche Tradition verwässerten, sei man in Mexiko ehrlich stolz auf diesen einzigen internationalen Star in der Musikindustrie, den das Land hervor gebracht habe.

Das entsprechende Selbstbewusstsein schwingt hier ganz gewaltig mit. Santana als Wahlkalifornier schaut quasi als neutraler Gast auf die USA, und als einer der Pioniere in Sachen 'Worldmusic' und ebenso in punkto Fusionjazz genießt er auch in stilistischen Experimenten allerhöchste Kredibilität. Die kostet er aus und betont er. Es heißt in "She's Fire" mal "She drives me loco" statt "She drives me crazy", um nur unbedingt einmal Spanisch unterzukriegen, selbst Reggaeton (nebst ultratiefen Hip Hop-Bässen) klingt an.

70er-Reminiszenzen an die "Caravanserai"- und "Borboletta"-LPs blinken besonders im Instrumental "Song For Cindy" auf. Mit Percussion wie Auspuffknattern braucht auch dieser Track keine Worte und erzählt doch viel. An der Seite von Chick Corea geht's dann in meditativeren Latinjazz über, so dass man schrittweise von dem aufgeregten Album wieder runterkommt, bis ein weiteres Instrumental als Outro den Parcours beschließt.

Unter Katharsis-Gesichtspunkten eine tolle Platte! Auch in Sachen Genre-Clashes und Abwechslung, wobei die gniedelnde Gitarre sich als roter Faden durchzieht und alles verbindet. Was aber massiv stört, sind die dick aufgetragenen Proll-Momente, der unbedingte Zwang, den schönen Charme solcher sentimentalen Songs wie "Whiter Shade Of Pale" mit Brechstangen-Produktion zu kontrastieren und damit die sehr vielen guten Abschnitte zu entstellen und das Gesamte zu verhunzen.

Ally Brooke von Fifth Harmony steigert zwar den Frauen- und Mexikoanteil vorbildlich divers, hat eine fantastische Stimme und lebt Anmut in Person; "Break" ist aber leider pappsüßer, schauderhafter Kitsch. Weiterer Tiefschlag: "She's Fire feat. Dianne Warren, G-Eazy" mit seinen übertriebenen, fast übersteuerten Bässen.

Dennoch ist reizvoll, wie das Album den Bogen vom kürzlich mit 79 verstorbenen Chick Corea über Hammett (58) und Glover (56), Santanas Kinder Stella und Salvador (beide Ende 30) bis zur 28-jährigen Ally spannt und wie Rap, Metal, Soul, Funk, Jazz, Country, Psychedelic Rock, Barockpop mit dem Procol Harum-Cover, Latin Percussion und Mainstream-Geblubber innerhalb einer Stunde Spielzeit unter einem Dach zusammen kommen.

Trackliste

  1. 1. Ghost Of Future Pull / New Light
  2. 2. Santana Celebration
  3. 3. Rumbalero feat. Salvador Santana, Asdru Sierra
  4. 4. Joy feat. Chris Stapleton
  5. 5. Move feat. Rob Thomas, American Authors
  6. 6. Whiter Shade Of Pale feat. Steve Winwood
  7. 7. Break feat. Ally Brooke
  8. 8. She's Fire feat. Dianne Warren, G-Eazy
  9. 9. Peace Power feat. Corey Glover
  10. 10. America For Sale feat. Kirk Hammett, Marc Osegueda
  11. 11. Breathing Underwater feat. Stella Santana, Avi Snow, MVCA
  12. 12. Mother Yes
  13. 13. Song For Cindy
  14. 14. Angel Choir/All Together + Chick & Gayle M. Corea
  15. 15. Ghost Of Future Pull Part 2

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8 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 3 Jahren

    Geiles Album ich finde die Rezension zu selbtverliebt ich glaube der Author sieht sich gerne schreiben. Ich möchte gute Musik hören und das reicht mir.

  • Vor 2 Jahren

    Nicht überragend, aber sehr interessant den Bogen soweit zu spannen, die Rezession wird der Scheibe nicht gerecht! Mn sollte die Platte mehrfach hören um die feinen Dinge mit zu nehmen 3 von 5 für die Musik; Aufnahmen 4 von 5

  • Vor einem Jahr

    Lieber Phillip: "Whiter Shade..." einmal genial, einmal durch Brechstangenproduktion verhunzt? Hm, zieh mir das Ganze gerade auf YT rein - ist halt ne Santana-Scheibe, aber durchaus der besseren, abwechslungsreichen Art. Ja, "Break" ist schon verdammt kitschig, das ist bei Carlos jetzt aber auch nicht ganz neu, Whiter Shade... ist nicht genial, aber gelungen modernisiert, die meisten Stücke kann man gut hören, wozu groß meckern? Wer auf Carlos steht, aber musikalisch nicht komplett "damals" stehen geblieben ist und Abwechslung mag, ist mit dieser Scheibe (vielleicht nicht mit jedem Stück) gut bedient, alle anderen interessierts sowieso bestenfall peripher.. Bleiben immerhin 3,5 von 5 Punkten - für den Carlos seit Supernatural schon ziemlich gut...