Porträt

laut.de-Biographie

Seu Jorge

Oft entsteht der beste künstlerische Ausdruck aus akuter Not. Seu Jorge, Schaupieler, Sänger, Komponist – kommt aus den Favelas in Rio de Janeiro.

Mit 20 sieht Jorge seinem Vater beim Spielen in Bars und auf den Bühnen Rio de Janeiros zu, als die familäre Tragödie geschieht: Jorges kleiner Bruder wird bei einem Überfall auf den Bäcker um die Ecke ermordet.

Die Familie bricht auseinander - Seu Jorge landet auf der Straße und muss sich als Reifenmechaniker und Bürgersteigreiniger durchschlagen. Über Trauer und Hunger hinweg hilft ihn sein zukünftiger musikalischer Partner Gabriel Moura, den er bei der Beerdigung seiner Bruders kennenlernt. "In meinem Fall hat mir Musik mein Leben gerettet".

Ausgerüstet mit einer geschenkten Gitarre und endlosem Optimismus, gründen die beiden mit anderen Musikern Mitte der neunziger Jahre die Gruppe Farofa Carioca als Hybrid aus Funk, Samba und Zirkusperformance. Die Truppe gibt kostenlose Aufführungen am Strand und steigert ihren Bekanntheitsgrad. Jorges erste Platte "Samba Esporte Fino" (in Deutschland "Carolina"), die er später als Solokünstler veröffentlicht, verkauft sich zunächst aber trotzdem nicht bedeutend.

Schon immer mit einer Leidenschaft und dem Talent für Schauspielerei und das Straßentheater gesegnet, engagiert sich Seu Jorge parallel zu seinen Musikprojekten auch filmisch als Mime. Seine wohl bekannteste Rolle ist die des Mané Galinha; eine der Hauptrollen in Fernando Meirelles’ "City Of God". Seine tragische Verkörperung des Rache suchenden Slumjugendlichen bringt ihm internationale Aufmerksamkeit ein - und das ironischerweise vor allem auf musikalischer Ebene. Auch in dem Film "Moro No Brasil" (Ich lebe in Brasilien) von Mika Kaurismäki spielt er eine größere Rolle.

Das beste Kompliment nach aller Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, kommt von David Bowie. Der hörte seine 13 auf portugiesisch gesungenen Songs im Wes Anderson-Film "The Life Aquatic" und bescheinigte dem Brasilianer, diese seien die besten Coverversionen seiner Songs, die er je gehört habe.

Seu Jorge hat wahrscheinlich nicht die beste Stimme Brasiliens. Doch was ihn aus- und interessant macht, ist die Fähigkeit, seine Stimme als Instrument und Werkzeug einzusetzen. Tief und schmeichelnd, schläfrig-samtig oder rauh und rauchig: Plötzlich bricht sie ein und verfällt in den letzten Teilen des Songs in ein Falsett oder verschluckt sich selbst – ein Großteil der Melancholie und auch des Rhythmus' seiner Lieder geht von diesen Stimmungswechseln aus und lassen seine Musik lebendig wirken. Vielleicht ist es auch der Schauspieler in ihm, der das Singen tatsächlich zu einer Performance werden lässt, statt nur zu versuchen, wie ein guter Sänger zu klingen.

Das Album Cru (dt. "roh") von 2004 bringt Seu Jorge nicht nur den respektablen Titel des coolest man on the Planet im britischen Telegraph ein, sondern auch weitere Lobeshymnen quer durch die Feuilletons und die Rezensionsseiten der Magazine. Der englische Radio One-DJ Gilles Peterson verwendete Jorges Hit "Tive Razao" auf seinen Mixtapes, die Kritiker überschlagen sich geradezu - und Jorge Ben füllt auf einmal riesige Hallen in Europa und Amerika, wo er den Mythos der ewig Caipirinha-beschwingten und sexuell aufgeladenen Samba-Brasilianer endlich entzaubern kann.

Jorges Wurzeln liegen im Samba und im Bossa Nova mit seiner unvergleichlich lässigen Schwermütigkeit, die den hüftbetontesten Rhythmus traurig und unendlich sehnsüchtig wirken lässt. Seine Produktionen sind simpel und funky, wenn es die Lieder verlangen; nackt und zurückhaltend dort, wo den gesungenen Balladen mehr Platz eingeräumt werden soll.

2008 bringt Jorge das Album "America Brasil O Disco" heraus, eine weite Fläche zwischen Samba-Funk und Hip Hop: tanzbar, doch nie aufdringlich; modern, aber nie flüchtig – und ein Vorzeigealbum der Música Popular Brasileira.

Jorge selbt definiert sich als "Popsänger mit Riesenspaß an allen musikalischen Genres", bleibt dabei doch immer dem Samba als rotem Faden, als eine Art Unterlage treu. Wie er selbst poetisch bemerkt, ist Samba ihm als Brasilianer Wahrheit und Identität: "Samba ist unsere Goldmedaille, unsere Festung, unser brasilianisches Banner".

Alben

Surftipps

  • Seu Jorge

    Seu Jorges Blog - haufenweise Konzertvideos.

    http://www.seujorge.com/
  • Hörprobe

    Seu Jorge zum Anhören: "Tive Razao" vom Album "Cru" als Stream

    http://www.wrasserecords.com/seujorge1.wmv

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